Clemens Setz über ungewöhnliche Kinder

Indigo

Wer im Internet recherchiert, wird schnell fündig: Indigo-Kinder, so erfährt man, seien hochsensible und spirituell begabte Persönlichkeiten, Auserwählte sozusagen, Vorboten eines neuen Zeitalters. Esoterische Zirkel wittern in ihnen die Verbindung zu einem außerirdischen Kosmos und ungeahnten Intelligenzen.

Die seltsam Ungerührten

Was für einen Stoff für einen wie Clemens Setz, der immer schon sehr mutig war. Sein neuer Roman, "Indigo", wird zum Abenteuerspielplatz, der einmal mehr die Möglichkeiten der Literatur herausfordert. In einer furiosen Tour de Force jagt das Buch durch die ziemlich skurrile und darin gefährliche Welt der Heilsversprechen und politischen Manipulationen. Bei Clemens Setz sind die Indigo-Kinder einsame Wesen. Sie haben irgendetwas an sich, das andere aus der Bahn schmeißt. Wer ihnen zu nahe rückt, muss mit unangenehmen Symptomen rechnen: mit Kopfschmerzen, Schwindel und Bewusstseinsveränderungen, in schlimmen Fällen auch mit einer Schädigung der inneren Organe. Dingos, wie man sie abwertend nennt, sind Mädchen und Buben, die alle Spielregeln der Erziehung außer Kraft setzen und damit Familien- und Freundesverbände zerstören.

Das beobachtet auch der Clemens Setz des Romans, eine der beiden Hauptfiguren des Buches. Mit dem Autor teilt er den Namen und etliche Aspekte seiner Biographie: das Studium der Mathematik, das Schreiben, die Liebe zu Musik und Literatur. Als Junglehrer hat er ein Praktikum in jener Anstalt absolviert, wo Indigo-Kinder verwahrt und auf spezielle Weise unterrichtet werden. Clemens ahnt nicht, was ihn erwartet. Plötzlich steht er mitten in einem System minutiös ausgeklügelter Sicherheitsregeln, Abstandsbestimmungen und sozialer Satzungen, die weit in sein eigenes Leben hineingreifen. Er ist gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Der Alltag in den Schulklassen höhlt ihn so sehr aus, dass er zusammenbricht und entlassen wird. Doch von den Indigo-Kindern, die seltsam ungerührt und gefühllos sind, kann er sich nicht lösen.

Geheimnisvolle Vorgänge

Er beginnt zu recherchieren, gerät dabei in die Fänge merkwürdiger Erkenntnisse und Personen und landet in einem Geflecht obskurer wissenschaftlicher Theorien. Wiewohl er spürt, dass er sich dabei selbst aus den Augen verliert und zum Opfer wird, verbeißt er sich in die Suche nach den Drahtziehern hinter den seltsamen Vorgängen, die er in der Anstalt beobachtet hat: Wo landen jene Schülerinnen und Schüler, die reloziert werden, wie es heißt: die man in eine Verkleidung steckt und ins Unbekannte abführt? Bedient man sich etwa der spezifischen Veranlagungen dieser Indigo-Kinder? Immerhin könnte es ihnen durch ihre besondere Ausstrahlung gelingen, Teile der Gesellschaft zu zersetzen. Und wenn man das nun weiterdenkt und auf politische Systeme umlegt? Wenn man nun die Grausamkeit dieser Wesen nutzt und sie entsprechend beauftragt?

Clemens Setz - und hier meine ich den Autor dieses Romans - spielt mit dem Geheimnis und hat den Spannungsbogen so sicher gespannt, dass man ihm und seiner gleichnamigen Hauptfigur gebannt folgt. Dass der Junglehrer Clemens in der zweiten Hauptfigur einen Gegenpart bekommt, öffnet weitere Reflexionsräume. Robert war als Indigo-Kind Schüler in eben jener Anstalt, in der Clemens bis zu seinem Zusammenbruch tätig war. Ihm begegnet man nun Jahre später als Erwachsenem, zu einem Zeitpunkt, da er vollends im sogenannt normalen Leben verankert ist. Doch der Schein trügt: Robert kämpft mit Aggressionen und einer Paranoia, er hält sich mit Psychopharmaka und der gezielten Abfuhr seiner Gewaltphantasien einigermaßen ruhig und spürt doch, wie es in ihm brodelt. Mit seinem früheren Lehrer verbindet ihn ein merkwürdig symbiotisches Verhältnis. Es eskaliert, als Robert eine Zeitungsmeldung entdeckt: Clemens Setz soll einem Tierquäler bei lebendigem Leib die Haut abgezogen haben. Er wird vor Gericht freigesprochen und bleibt doch für Robert die Zielscheibe seines Hasses und seiner Projektionen.

Im unerträglichen Spinnennetz gefangen

Dieser "Indigo"-Roman hat einiges vor und ist dann auch radikal in dem, was er uns Lesern abverlangt und zumutet: Man muss seine Drastik aushalten, die Flut an Andeutungen und Anspielungen, die Obsessionen der Figuren und nicht zuletzt das Dickicht an Fährten, in dem man sich gegen Schluss des Buches zu verlieren scheint. Clemens Setz legt uns etliche Stolpersteine in den Weg: Fotos, scheinbare Fehler in der Paginierung, unterschiedliche Typographien. Die Masse an Material, die er anhäuft, wird zur zusätzlichen Hürde.

Wer drüberspringt und dranbleibt an der Geschichte, ist bald wie in einem Spinnennetz gefangen. Setz versteht sein Handwerk. Die Zeitebenen sind stimmig ineinandergeschoben, die Fäden zwischen den Figuren subtil gesponnen, die Struktur des Bandes straff, allem inhaltlichen Wildwuchs zum Trotz: Es gibt klar voneinander abgegrenzte Erzählebenen, es gibt verschiedenen Mappen, in denen sich Berichte, Legenden und Artikel angesammelt haben. Dieses Gerüst gibt Halt, wenn die Handlung aus dem Ruder zu laufen droht und die Beschreibung der brutalen Versuchsanordnungen kaum mehr auszuhalten ist.

Inhalt und Form gehen Hand in Hand. Des Autors Kalkül hat Erfolg: Es gelingt ihm, sinnlich erfahrbar zu machen, wie leicht Menschen manipulierbar sind und wie schnell und ungebremst sich Experimente, ob an Personen oder Tieren, bis ins Unerträgliche hinein steigern können. Wenn Lebewesen aller Art zu Marionetten werden und zu Instrumenten unheilvoller Ideologien, dann ist das Wissen um das Tun der Wissenschaftler und Ärzte der NS-Zeit ständig präsent. Dass Clemens Setz Themen wie diese auf so plastische Weise vorführt, macht den Reiz des Romans aus. Der zunehmend beklemmender werdenden Atmosphäre kann man sich nur schwer entziehen. "Indigo" lässt einen ziemlich erledigt zurück, in mehrerer Hinsicht. In die Müdigkeit mischt sich Genugtuung. So kann gute Literatur aussehen.