Ein Roman von Jenny Erpenbeck
Aller Tage Abend
In ihrem neuesten Roman "Aller Tage Abend", verschreibt sich Jenny Erpenbeck einer geradezu waghalsigen Roman-Architektonik. In einem originellen Form-Experiment lässt sie ihre Protagonistin fünfmal sterben und viermal wieder auferstehen.
8. April 2017, 21:58
Ein kleines Detail in ihrem Lebens- und Todeslauf wird jeweils um ein Winziges verschoben - und schon verwandelt sich das Ableben in ein Weiterleben. Es war eben noch längst nicht aller Tage Abend; die Autorin kann in dieser Versuchsanordnung erzählerisch mehrmals neu ansetzen - immer unter dem spielerischen Motto: "Alles hätte auch anders kommen können". Sie kann ihre frisch verstorbene Heldin in einem anderen Leben wieder auferstehen lassen.
Alternative Lebensläufe
Statt im Jahre 1902 als Säugling am Plötzlichen Kindstod stirbt die Protagonistin nach viermaliger literarischer Wiederbelebung zuletzt tatsächlich - als erst hochangesehene und dann vergessene DDR-Schriftstellerin im biblischen Alter von neunzig Jahren in Ostberlin. Auf diese ausgeklügelte Weise steuert die Autorin ihre Romanheldin durch fast das ganze 20. Jahrhundert, indem sie ihr alternative Lebensläufe und unterschiedliche Todesvarianten zumisst.
Das gibt Jenny Erpenbeck die literarische Freiheit, in Zeitsprüngen immer wieder die Epoche, den Schauplatz (und damit auch den Schreibstil und den Erzähl-Rhythmus) zu wechseln und in unterschiedlichen Schreckenszeiten des Jahrhunderts Station zu machen.
Hart und lebensbedrohlich
Denn Schreckenszeiten und Schreckensorte sind es allemal, in denen sich hier die Zeitgeschichte und das private Leben überschneiden. Worauf auch immer die Autorin den Erzähl-Fokus richtet - es ist eine mühselige Ära, in der das Leben hart und der Schauplatz ein lebensbedrohlicher Ort ist.
Erpenbeck spannt ihren Epochen-Bogen vom galizischen Schtetl des Jahres 1902 über das verelendete Nachkriegs-Wien von 1919/20 und das stalinistische Moskau zur Zeit der Schauprozesse und Massenverhaftungen von 1938 bis nach Ostberlin, vor und nach der Wende. Das Setting für ihre Heldin ist zwar jedes Mal völlig anders, meist jedoch beschwerlich und sogar gefährlich. Not-Zeit ist immer in Erpenbecks Szenarien.
Schutz gegen Schuldenfreiheit
In der ersten Episode ist die Mutter der (namenlosen) Protagonistin eine galizische Jüdin, die von ihrer Familie an einen kakanischen Beamten in der Kleinstadt Brody verheiratet wird. Ein scheinbar günstiges Geschäft für beide Seiten: Schutz gegen Schuldenfreiheit.
Die Ehe soll die junge Frau vor dem Antisemitismus schützen, der sich jederzeit in Pogromen entladen kann; und der k.u.k. Beamte macht sich durch die Mitgift der Frau schuldenfrei, muss allerdings feststellen, dass eine jüdische Ehefrau in der österreichisch-ungarischen Monarchie ein schweres Karriere-Hindernis ist. Wäre das gemeinsame Kind tatsächlich als Säugling gestorben, der Mann wäre einfach verschwunden und hätte sich heimlich nach Amerika abgesetzt und ein neues Leben begonnen, und seine sitzengelassene junge Frau wäre vielleicht als Soldaten-Dirne zugrunde gegangen.
Im Wien der Hungerjahre um 1920
Hätte der Säugling allerdings überlebt, dann - so die zweite Episode - hätte es die österreichische Beamten-Familie aus Brody nach dem Zusammenbruch der Monarchie vielleicht ins ausgepowerte Wien der Hungerjahre um 1920 verschlagen.
Aus der inzwischen 18-jährigen Romanheldin wäre eine überspannte, unglückliche, literatursüchtige und schließlich lebensmüde junge Frau geworden, die in einem melodramatischen Akt mit einem ebenso lebensmüden Zufalls-Jüngling Doppelselbstmord begangen hätte.
Moskau 1938
Hätte sich ihr Weg im nächtlichen Wien nicht zufällig mit dem des sterbesüchtigen Jünglings gekreuzt, dann wäre - dritte Episode - die Heldin vielleicht der kommunistischen Untergrundpartei beigetreten und später vor dem Faschismus nach Moskau 1938 emigriert - mitten hinein in ein Schlangennest der Partei-Intrigen, Fraktionskämpfe, Denunziationen, NKWD-Verfolgungen und willkürlichen Verhaftungen.
Erpenbeck lässt ihre Heldin, nun die Genossin H., in Moskau über ihrem Lebenslauf für die KPdSU brüten. Wie laviert man sich mit einer vielfach gebrochenen Biografie in den Jahren des Stalin-Terrors durch, wenn sich die Parteilinie ständig ändert?
Jede Formulierung kann falsch und lebensgefährlich sein; jeder Satz kann einen vor ein Erschießungspeloton oder nach Sibirien bringen. Der hochverdiente Genosse, der als Gewährsmann zitiert werden soll, ist vielleicht längst als Trotzkist diskreditiert?
Karriere als DDR-Staatsdichterin
Wäre die Genossin H. nicht 1941 in einem arktischen Straflager zugrunde gegangen, so wäre sie vielleicht - vierte und fünfte Episode - nach langjähriger sibirischer Lagerhaft aus der Emigration zurückgekehrt und hätte als Frau Hoffmann in Ostberlin eine späte und ehrenvolle Karriere als DDR-Staatsdichterin gemacht und wäre entweder vor oder nach der Wende als verdiente Genossin hochbetagt gestorben.
Jede Episode mit eigenem stilistischem Profil
Jenny Erpenbeck trennt die einzelnen Episoden ihres fiktiven Frauenlebens jeweils durch Intermezzi, in denen im Irrealis über mögliche biografische Varianten für die Heldin spekuliert wird: die Autorin in der Rolle der allwissenden und allmächtigen Schöpferin, die ihre Versuchsperson durch das Jahrhundert hin- und herschiebt.
Erpenbecks literarische Kunstfertigkeit liegt auch darin, dass sie jeder Episode ein eigenes stilistisches Profil gibt. Ihr Galizien klingt sehr nach Joseph Roth, der ja auch aus Brody stammte; die Wien-Episode ist historisch sorgfältig recherchiert, und die Moskau-Episode, hysterisch angstbesetzt wie sie ist, klingt nach Arthur Koestler, aber auch nach Schalamow und Solschenizyn.
Requisiten als Leitmotive
Ganz unauffällig, aber sorgfältig hantiert Jenny Erpenbeck auch mit einem literarischen Kunstgriff, um die Roman-Episoden zusammenzuhalten. Sie führt Requisiten ein, Dinge aus dem Familienbesitz, die sie leitmotivisch einsetzt: eine kleine Fußbank, eine Pendeluhr, einen Kerzenleuchter. Solcherart kann sie die einzelnen Episoden, die ja zum Auseinanderdriften tendieren, mit einander verklammern.
So taucht beispielsweise die Goethe-Ausgabe letzter Hand, die das Pogrom in Brody überstand, in den 1980er Jahren in einem Wiener Antiquariat wieder auf, während der siebenarmige Leuchter aus dem Elternhaus der Protagonistin schon in der Nazi-Zeit in der Metallsammlung verschwunden ist und eingeschmolzen wurde.
"Aller Tage Abend" blickt noch einmal zurück auf das schreckliche 20. Jahrhundert mit seinen Groß-Katastrophen (Untergang des Schtetl-Judentums in Polen, Untergang der Habsburger-Monarchie, die beiden mörderischen Totalitarismen unter Hitler und Stalin) und zieht eines der möglichen Resümees aus diesen Erfahrungen - mit nachdenklichem Ernst, doch literarisch elegant und spielerisch in der Form.
Service
Jenny Erpenbeck, "Aller Tage Abend", Knaus Verlag