Roman von Gaito Gasdanow
Das Phantom des Alexander Wolf
Zu Russland fällt ihnen nichts mehr ein - diesen Eindruck bekommt man bei einem Blick in die Programme deutschsprachiger Verlage, die zwar furiose Emsigkeit beim Publizieren russischer Klassiker an den Tag legen - Zeitgenossen kommen hingegen selten vor, was einmal "Entdeckung" hieß, praktisch nie. Gaito Gasdanow gehört zu diesen.
8. April 2017, 21:58
Auch wenn er die Regel quasi doppelt bestätigt: Er ist ein russischer Klassiker des 20. Jahrhunderts und eine Entdeckung, kurioserweise wurde er noch nie ins Deutsche übersetzt.
Emigration nach Paris
Gasdanow, ossetischer Abstammung, wurde 1903 in Sankt Petersburg geboren, nahm als 16-Jähriger am russischen Bürgerkrieg teil - er kämpfte auf der Seite der Weißen gegen die Bolschewiki. Es folgten die Flucht über die Krim und die Türkei, ein Schulbesuch in Bulgarien, dann Paris, wo er ein karges Dasein als Autor und Journalist fristet. Während des Zweiten Weltkriegs gehört er der Resistance an, danach arbeitet Gasdanow - bis zu seinem Tod 1971 - für den amerikanischen Radiosender "Radio liberty" in München. Ein normales Emigrantenschicksal.
In Paris, dem intellektuellen Zentrum des russischen Exils, galt Gasdanow neben Nabokow als der talentierteste der jungen Autoren: Für diesen war die Stelle des "neuen Tolstoj" reserviert, für Gasdanow jene des "neuen Dostojewskij". Anders als Nabokov, der englisch-schreibend zum amerikanischen Autor wurde, blieb Gasdanow in seinen zehn Romanen und Erzählungen beim Russischen; der Versuch, sich stilistisch an modernen Franzosen wie Proust zu orientieren, wurde ihm in der immer älter werdenden Emigrantenszene fast zum Vorwurf gemacht. Weltanschaulich und ideologisch eher neutral, passte er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ganz in das geforderte Bild des kalten Kriegers - Gasdanow schrieb absolute Literatur.
Über das Töten
"Das Phantom des Alexander Wolf" - eigentlich "Das Gespenst des Alexander Wolf" - entstand 1948 und ist ein Buch über das Töten. Eine Geschichte über Liebe und Tod, eine erzählerische Studie voll innerer Monologe in langen Reflexionsbögen, die Elemente der romantischen Doppelgänger-Geschichte mit dem Kriminalroman verbindet - man denke dabei an die französische "serie noir". Letzteres wirkt, wie sich am Ende herausstellt, allerdings ein wenig aufgesetzt. Vorgetragen wird das Ganze in geradezu klassischer Sprache.
Gasdanows Ich-Erzähler kommt gleich mit dem ersten Satz zur Sache:
Zitat
Von allen meine Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindung meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe.
Dieser Mord erfolgte während des russischen Bürgerkrieges, jenem Gemetzel nach dem Ersten Weltkrieg, der in der Sowjetunion zum eigentlichen Gründungsmythos hochstilisiert und literarisch unendlich oft und breit dargestellt wurde.
Kein Entkommen der Erinnerung
Gasdanow wählt die kleine Form der Powest, den Kurzroman von 150 Seiten. Die Tragweite des politischen Brudermordes implizit ständig präsent - Gasdanow nimmt aber eine neutrale Position ein. Der Mörder hat nie Recht - und sei es um des eigenen Seelenheiles willen. Der Mord im Süden Russlands ist keine bloße Erinnerung, sondern Zentrum im weiteren Leben des Erzählers. Immer wieder taucht die Szene auf: Ein Ritt unter dröhnender Gluthitze, Rauchgeruch, tödliche Erschöpfung nach einem Gefecht, das zufällige Zusammentreffen mit dem Gegner auf einem Schimmel, ein Schuss, der das eigene Pferd in vollem Lauf tötet: "Eine Kugel war dem Pferd ins rechte Ohr gedrungen und hatte den Kopf durchschlagen".
Es folgt eine beinahe unwillkürliche Reaktion, der Gegner wird mit einem Schuss aus der Parabellum niedergestreckt.
Zitat
Es war ein Mann von vielleicht zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren; seine Mütze war fortgeflogen, sein blonder Schopf lag, zur Seite geneigt, auf dem staubigen Weg. Er war ein recht gut aussehender Mann. Ich beugte mich über ihn und sah, dass er im Sterben lag; zwischen seinen Lippen sprudelten rosa Schaumblasen und platzten. Er öffnete seine Augen, sagte nichts und schloss sie wieder. Ich stand über ihn gebeugt und schaute ihm ins Gesicht, dabei hielt meine immer taubere Hand weiterhin die nun überflüssige Pistole.
Rätselhaft und unheimlich
Jahre später bekommt der Erzähler, der in Paris als Gelegenheitsjournalist über Politskandale, Raummorde aber auch über Box-Kämpfe berichtet, das Buch eines Erzählers namens Alexander Wolf in die Hand: "I' ll come tomorrow". Darin findet sich auch die Erzählung "Das Abenteuer in der Steppe", in der besagte Bürgerkriegsepisode aus der Perspektive des Getöteten geschildert wird.
Meisterhaft entfaltet Gasdanow die um den Erzähler sich ausbreitende Atmosphäre des Rätselhaften und Unheimlichen, der sich schließlich auf die Suche nach seinem Toten macht. Eine Zufallsbekanntschaft in einem Pariser Restaurant ergibt vorerst nur mysteriöse Hinweise. Überlagert wird diese Suche nach dem ominösen Alexander Wolf durch eine andere "Zufallsbegegnung" während eines Boxkampfes, über den der Journalist berichtet. Es folgt eine Liebesgeschichte - die junge Frau erweist sich als russische Emigrantin, die es ihrerseits nach England verschlagen hat und heißt Jelena Nikolajewna Armstrong, und - man ahnt es schon - Alexander Wolf hatte einmal mit ihr zu tun.
Raffinierte Gedankenkonstruktionen
Gasdanow modernisiert E. T. A. Hofmann, es klingt ein wenig wie Borges mit viel Paris der Zwischenkriegszeit, Montmartre, Päderastenlokalen, Unterhaltungen über Liebe und Tod, Bordell und Bücher plus Essen. Bisweilen steigern sich die raffinierte Satz- und Gedanken-Konstruktionen zu maniriert Gestelztem - wenn da etwa von "dieser stummen Melodie von Haut und Muskeln" die Rede ist. Das Wort "makellos" kommt einige Male zu oft vor, auch Klischee und Kitsch geben sich mitunter ein fröhliches Stelldichein:
Zitat
Ich sah ihren lächelnden Mund, ihre gleichmäßigen, kräftigen Zähne und das matte Rot ihrer leicht geschminkten Lippen. Ich schloss die Augen, ich verspürte eine stürmische Trübung der Sinne.
Sex stellt Gasdanow dezent prickelnd dar. Das Zusammentreffen mit dem realen Alexander Wolf, das den Erzähler seines lebensspendenden Phantoms beraubt, hat es an Dramatik dann wieder in sich. Als Gangstergeschichte wird schließlich der doppelte Showdown inszeniert: Mörder und Oper treffen vor der geliebten Frau noch einmal aufeinander, und - es fällt ein Schuss. Ist es Realität, eine Halluzination - doch jetzt ist nicht mehr klar, wer hier Mörder und wer Oper ist.
Zitat
Es war die Idee des Tötens, die mit gebieterischer Begierde meine Phantasie so oft in Beschlag genommen hatte. Sie glich vielleicht dem letzten Widerschein eines erlöschenden Feuers, der kurzen Rückkehr zu einem uralten Instinkt.
Mehr ist über dieses Kabinettstück der Weltliteratur nicht zu sagen. Außer: "Die Abfolge der Ereignisse in jedem Menschenleben ist wunderbar." Und: Gaito Gasdanow muss man lesen!
Service
Gaito Gasdanow, "Das Phantom des Alexander Wolf", aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze, Carl Hanser Verlag