Historienroman von David Mitchell

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Wenn die Postmoderne nach der Moderne kommt, was kommt dann eigentlich nach der Postmoderne? Die Post-Postmoderne? Um kurz und stark vereinfachend zu sagen: Die Postmoderne hat die Literatur von ihren starren Konzepten endgültig befreit.

Entdeckung David Mitchell

Es ist wohl nicht zu hoch gegriffen, David Mitchell als einen der besten und aufregendsten zeitgenössischen Autoren zu bezeichnen. Mitchell schickt sich gerade an, sehr populär zu werden. Was vor allem daran liegt, dass jetzt die Verfilmung seines Opus magnum "Der Wolkenatlas" ins Kino kommt. Ein würdiger Anlass für seinen Popularitätshöhenflug wäre aber auch sein aktueller Roman "Die Tausend Herbste des Jacob der Zoet".

Aufrechter Jacob de Zoet

Fassen wir die Handlung kurz zusammen: Jacob de Zoet ist ein überaus korrekter junger Mann, der im Jahre 1799 nach Dejima kommt. Das ist eine künstlich angelegte Insel vor Nagaski und der einzige Handelsstützpunkt, den Japan mit der Außenwelt unterhält. Mit den Holländern wird zwar Handel getrieben, aber Japan zu betreten ist ihnen ebenso verboten, wie christliche Literatur mitzubringen. Jacob de Zoet soll auf dem korrupten Handelsstützpunkt aufräumen. Die alten Verantwortlichen wurden gerade unehrenhaft entlassen, weil sie sich privat bereicherten. Es kommen also neue Besen - aber schnell wird klar, dass die Neuen genauso wie Alten ebenfalls nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.

In Dejima betrügt jeder Jeden. Die japanischen Dolmetscher übersetzen nur das, was ihnen in den Kram passt. Die Holländer wiederum versuchen, die Japaner übers Ohr zu hauen - und die niederländische Handelskompanie zu hintergehen, gehört bei ihren Angestellten ohnehin zum guten Ton. In diesen Kessel aus Korruption und Intrige kommt der moralisch gefestigte Jacob - und er, der einzige Unbestechliche, macht sich bald schon viele Feinde unter seinen Landsmännern.

Zu allem Überdruss verliebt sich Jacob auch noch in Orito Aibagawa, in eine Japanerin, die als einzige Frau bei dem holländischen Arzt Dr. Marinus studiert und zur Hebamme ausgebildet wird. Durch einen Unfall ist eine Gesichtshälfte von Orito entstellt, aber das macht sie für Jacob nur umso anziehender. In dem Moment, als Jacob Orito zum ersten Mal Avancen machen will, verschwindet sie. Und der Text ändert sich radikal.

Aus Historiendrama wird Thriller

Was bis dahin ein wunderbarer Historienroman war, wird plötzlich zu einem Thriller. Denn Orito wurde von ihrer Familie verkauft - und zwar an den Abtfürst Enomoto, der ein entlegenes Kloster unterhält. Hier sind mehrere Frauen eingesperrt. Alle sind sie entstellt, und ihre einzige Aufgabe besteht darin, den Orden mit immer neuen Säuglingen zu versorgen. Der Orden hütet ein schreckliches Geheimnis und als einer der japanischen Übersetzer dieses Geheimnis erfährt, macht er sich auf, Orito zu befreien.

Derweil wird Dejima von den Engländern belagert. Sie wollen die Holländer verjagen, um selbst Handel mit Japan treiben zu können. Wie immer steht Jacob de Zoet seinen Mann - im wahrsten Sinne des Wortes: denn als letzter hält er noch die holländische Fahne hoch, als die Engländer schon längst den Glockenturm mit Kanonen beschießen.

Nie langweilig

"Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet" ist ein Historienroman, ein Liebesroman, ein Thriller, eine Abhandlung über das xenophobe und isolierte Japan des 18. und 19. Jahrhunderts und die Auf- und Umbrüche Europas zur selben Zeit. Es ist ein Buch über die Selbstbefreiung einer Frau und die institutionelle männerdominierte Gewalt. Es ist ein Text über Macht und die Korrumpierbarkeit von Menschen. Und das ist nur ein kleiner Auszug dessen, was einen auf diesen 720 Seiten erwartet.

Leichter zu beantworten als die Frage, was das Buch denn nun ist, ist jene, was das Buch nicht ist: Es ist niemals langweilig. Mitchell schreibt äußerst unterhaltsam. Seine Personen sind aus Fleisch und Blut, die Dialoge pointiert. Selbst die historischen Abhandlungen in dem Roman wirken nicht als Fremdkörper. Hier passt alles zusammen. Hier ist kein Wort zu viel.

Eine amerikanische Rezension von "Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet" war folgendermaßen betitelt: Was kann David Mitchell eigentlich nicht? Nach Lektüre des Buches muss man sagen: Es scheint, als gäbe es nichts, was David Mitchell nicht kann.

Service

David Mitchell, "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet", aus dem Amerikanischen übersetzt von Volker Oldenburg, Rowohlt Verlag

Rowohl - Die tausend Herbste des Jacob de Zoet