Eine Jahresgedenkschrift
1913 - der Sommer des Jahrhunderts
Florian Illies muss sich durch Berge von Büchern, Briefen und Biographien geackert haben. Allein: Man merkt es nicht. Sein Buch liest sich erstaunlich leicht und bemerkenswert süffig.
8. April 2017, 21:58
Man hat das Gefühl, ein Jahrespanorama im Cinemascope-Format präsentiert zu bekommen. 1913, dieses Jahr markiere eine historische Zäsur, konstatiert der Autor:
"Es ist natürlich das letzte Jahr des langen 19. Jahrhunderts, es ist das letzte Jahr des Fin de Siecle, es ist das letzte Jahr einer immer dekadenteren Welt. Aber es ist auch das erste Jahr der Modernen. Es ist das Jahr, in dem Malewitsch das erste schwarze Quadrat malt, und trotzdem regiert in Österreich-Ungarn seit 84 Jahren derselbe Kaiser. Also, das ist diese Zeitüberlappung vom zu Ende Gehenden und dem Beginnenden, was dieses Jahr so außergewöhnlich macht", sagt Florian Illies.
Der kleine Rechenfehler sei Florian Illies nachgesehen: Franz Joseph regierte 1913 erst seit 65 Jahren, im Buch allerdings stimmt’s. Er habe sich bemüht, während der Arbeit an seinem Jahres-Kaleidoskop das Wissen auszublenden, dass wenige Monate nach dem Jahresende 1913 die Katastrophe des Ersten Weltkriegs über Europa hereingebrochen sei, sagt Florian Illies.
Geschichten, Geschichten und Geschichten
Florian Illies präsentiert eine Fülle von Geschichtchen und Geschichten aus dem Jahr 1913, anschaulich geschrieben, mit Fingerspitzengefühl arrangiert. Auf diese Weise entsteht ein Jahresmosaik von farbsattem Reiz. Was wir da alles erfahren!
In der Silvesternacht - das Jahr 1913 ist erst wenige Minuten alt - gibt in New Orleans ein Ghettojunge namens Louis Armstrong mit einem gestohlenen Revolver einen Schuss in die Nacht ab, um das neue Jahr zu begrüßen. Der renitente junge Mann wird festgenommen und in eine Besserungsanstalt für junge Schwarze geschickt, wo er das Trompetenspiel erlernt.
Das ganze Jahr 1913 über seziert der Pathologe Dr. Gottfried Benn im Leichenkeller des Klinikums Berlin-Charlottenburg die sterblichen Überreste von Bierkutschern und Prostituierten und sucht vergebens nach dem Sitz der menschlichen Seele.
Der russische Kampfflieger Nesterow fliegt im Jahr 1913 den ersten Looping der Menschheitsgeschichte, die Droge Ecstasy wird synthetisiert, Käthe Kollwitz macht Urlaub in Tirol und leidet unter Depressionen, ein pockennarbiger, etwas verwahrloster georgischer Untergrundkämpfer namens Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili kommt auf dem Wiener Nordbahnhof an und beschließt, sich fortan "Stalin" zu nennen, Sigmund Freud treibt die Entwicklungsarbeit an der von ihm kreierten Psychoanalyse weiter, und in Paris veröffentlicht Marcel Proust den ersten Band seiner "Suche nach der verlorenen Zeit".
Kulturelle Ereignisse im Vordergrund
Natürlich nehmen Oskar Kokoschka und Alma Mahler, Adolf Loos und Sigmund Freud, Karl Kraus und Georg Trakl, Egon Schiele und die schöne Lou Andreas-Salome breiten Raum ein in Illies’ Buch.
Die Wiener Passagen lesen sich ganz und gar unpeinlich, was der Autor als Kompliment nehmen möge: Beachtlich, wie empathisch sich Illies - ein Piefke, wie nur je einer - in die Wiener Seele einzufühlen vermag.
Die politischen Ereignisse des Jahres 1913 nehmen im Vergleich zu den kulturellen Highlights nur wenig Raum ein. Die Kriegsgefahr, auch die Weltkriegsgefahr, hing als düstere Verheißung durchaus schon über dem europäischen Kontinent, wie Illies feststellt, allerdings war der Ausgang des Ganzen durchaus noch ungewiss.
Eine anregende Jahresgedenkschrift
Florian Illies führt eine gewandte Feder. Sein Jahres-Kaleidoskop wird dem Fachhistoriker nichts Neues bieten; dem breiten, kulturhistorisch interessierten Publikum aber, an das der Band sich unübersehbar wendet, diesem Publikum hat der Berliner Publizist eine schöne, würzige, anregende Jahresgedenkschrift mit multiperspektivischem Anspruch in die Hand gegeben.