Unser Körper am Limit

Extrem

Was manche Menschen sich antun, warum sie Extremsituationen suchen, wo die Grenzen des Körpers sind und wie man sie überschreiten kann – das beschreibt Stefan Gödde in seinem Buch "Extrem.

"No-Limit" - so heißt eine Disziplin im Tauchen, bei der man ohne Sauerstoffgerät stehend auf einer Art Schlitten festgeschnallt wird, der durch das Eigengewicht des Tauchers in die Tiefe fährt. Dieser auch Apnoetauchen genannte Sport, der auf das Perlen-, Schwamm- und Jagdtauchen früherer Zeiten zurückgeht, ist ungeheuer riskant – und erfordert komplizierte Atemtechniken, um den mit zunehmender Tiefe steigenden Umgebungsdruck auszuhalten.

Man spricht von "Bloodshift" – und will damit das Blut aus Armen und Beinen in den Bauch- und Brustraum bringen. Doch das allein genügt nicht. "Der mentale Faktor ist entscheidend", sagt Herbert Nitsch. Der Österreicher ist der Meister im "No-Limit"-Tauchen, er hat 32 Weltrekorde aufgestellt und kommt mit nur einem Atemzug bis in 214 Meter Tiefe.

"Der Kopf muss komplett leer sein und sich gleichzeitig nur auf das Wesentliche konzentrieren. Das ist ein Mittelding zwischen Schlaf und extremster Konzentration", erklärt Nitsch dem Journalisten Stefan Gödde. "Ich bin so konzentriert, dass mein Blick beim Tauchen wie nach innen gerichtet ist. Ich schaue auf die Empfindungen in und an meinem Körper. Es ist ein In-sich-Hineinhorchen."

Was manche Menschen sich antun, warum sie Extremsituationen suchen, wo die Grenzen des Körpers sind und wie man sie überschreiten kann – das beschreibt Stefan Gödde in seinem Buch "Extrem. Unser Körper am Limit": 17 Kapitel mit Titeln wie "Extrem tief" und "Extrem hoch", "Extrem heiß" und "Extrem kalt", "Extrem schnell", "Extrem klein" und "Extrem still".

Auslöser der Recherchen war eine Reise nach Tschernobyl, für eine Reportage im verstrahlten Gebiet des havarierten Atomreaktors.

Stefan Gödde hat Gerlinde Kaltenbrunner getroffen, die dritte Frau, die alle 14 Achttausender bezwang und die erste, der das ohne zusätzlichen Sauerstoff aus der Flasche gelang. "Aus Titeln mache ich mir überhaupt nichts", beteuert die österreichische Extrembergsteigerin. "Für mich sind es wirklich nur die Bilder, die Erinnerungen, die ich in mir trage. Und die werden mich wahrscheinlich ein Leben lang nicht mehr loslassen."

Der Autor ist der Saunaweltmeisterin Michaela Butz begegnet, die Aufgüsse bei 110 Grad aushält. "Das Gefühl des Sieges entschädigt letztlich für die Schmerzen, denn es wäre gelogen zu behaupten, es tue nicht weh", sagt die Deutsche, die erklärt, dass man die Hitze "wegatmen" könne und bedauert, dass keine Weltmeisterschaften mehr ausgetragen werden, seit sich vor zwei Jahren ein Russe in der Sauna zu Tode gekocht hat.

"Gegenpol" zu Butz ist der Holländer Wim Hof. Er liebt die extreme Kälte – und schafft es, nur mit einer Badehose bekleidet fast zwei Stunden lang in einer Wanne voll mit Eiswürfeln zu liegen, ohne sich zu unterkühlen. "Die Kälte ist eine sehr noble Kraft", philosophiert der Eismann. "Sie bringt unser Innerstes zurück ins Gleichgewicht." Wim Hof, der Mann, der die Eistortur erträgt, weil er sein vegetatives Nervensystem beeinflussen kann, hält sich nicht für einen "extremen", eher für einen "erfüllten" Menschen, der seinen Körper vollständig unter Kontrolle hat.

Doch es sind nicht nur sportliche Herausforderungen, die unseren Körper ans Limit bringen. Lärm - durch Flugzeuge, Baumaschinen oder Straßenverkehr zum Beispiel - verursacht Stress und kann zu Herzinfarkten führen. Doch nicht nur extrem laut kann es im Leben sein, auch extrem eklig.

Auch Ekel ist eine Reaktion, die uns unsere körperlichen Grenzen bewusst macht, die freilich sind je nach Region und Kultur verschieden. Was unsereinem Brechreiz verursacht, gilt in Skandinavien als Genuss: vergorene Heringe zum Beispiel oder Gammelhai, der nach Ammoniak stinkt.

Dass nicht nur die Anwesenheit, auch die Abwesenheit von Geräuschen krank machen kann, erzählt das Kapitel "Extrem still". Gefangene wurden im Mittelalter angeblich durch totale Geräuschlosigkeit gefoltert. Katharina Deifel freilich sucht diese Geräuschlosigkeit freiwillig. Die Stille führt zur Kontemplation – und ermöglicht der Schwester im Konvent der Wiener Dominikanerinnen eine Art mystischer Einheitserfahrung.

Stefan Gödde porträtiert also nicht nur Extrembergsteiger, Saunasüchtige und Apnoetaucher und fragt sie nach ihrer Motivation und ihren Techniken und Tricks. Ihn interessiert generell, wie unser Körper funktioniert, was Lärm und Stille mit ihm machen, Ekel und Schmerz, das Lachen und die Liebe.

Was haben verliebte Männer mit Präriewühlmäusen gemeinsam? Warum können Menschen die Topografie ihrer Umgebung mit dem Gehör erfassen? Und wie reagiert der Körper in der Schwerelosigkeit?

Die Grenzen des Körpers, das macht dieses Buch deutlich, sind nicht ein für allemal definiert, sie verändern sich: Auch das kann man von Göddes "Extremisten" lernen, die ans Limit gehen, um es zu überwinden. Das tut auch einer, dem es nicht um Sport geht, sondern um Kunst: Willard Wigan.

Wigan arbeitet mit den Haaren von Fliegen oder Diamantsplittern und kreiert sogenannte "Nano-Skulpturen". Er platziert Figurengruppen in ein Nadelöhr und macht aus einem Sandkorn eine Nachbildung von Michelangelos "David".

Was bringt Menschen dazu, sich körperlichen und mentalen Grenzsituationen auszusetzen? Darauf gibt es mehr als eine Antwort: Ehrgeiz, Nervenkitzel und Siegermentalität, aber auch die Sehnsucht nach unauslöschlichen Eindrücken und intensiver Selbsterfahrung.

Stefan Göddes sehr flott geschriebenes und informatives, in kurze Kapitel eingeteiltes Buch ist dort am Stärksten, wo es von persönlichen Begegnungen und Gesprächen handelt, und bleibt da ein bisschen blass, wo es bloß allgemeine Erkenntnisse referiert. Auch ein kritisches Resümee hätte dem Werk nicht geschadet – gerade in Zeiten wie diesen, wo Extremsportarten boomen, nicht nur das Bergsteigen, auch das Wüstendurchwandern, Langstreckenschwimmen und Weltumsegeln, das Basejumpen und Antarktis-Racen – und Leistungswillen allzu oft verwechselt wird mit Hybris, Geltungssucht und fahrlässiger Selbstgefährdung.

Davon ist auch Herbert Nitsch nicht wirklich freizusprechen. Er habe fast das Gefühl, so der Apnoetaucher zu Stefan Gödde, er sei "ein Unterwasser-Superman, sodass man sich eigentlich gar nicht vorstellen kann, wo die Grenzen sind". Und gerade das treibe ihn an. Im Sommer versuchte er sich an einem neuen Rekordversuch im Tieftauchen. Nitsch aber, der "No-Limit"-Spezialist, kam an seine Grenzen – und überlebte nur knapp.

Service

Stefan Gödde, "Extrem. Unser Körper am Limit", Hanser Verlag