Roman von John Lanchester

Kapital

"Die Idee kam daher, dass ich aus dem Fenster geschaut habe - Ende 2005, Anfang 2006 -, und ich glaubte, eine riesige Blase zu erkennen. Es gab tatsächlich eine Blase und sie war globaler, als ich gedacht hatte", so John Lanchester. "Ich war sicher, dass es einen Zusammenbruch geben würde."

Dieser Zusammenbruch, den John Lanchester schon früh erahnte, trat bekanntlich ein und hält die Welt bis heute in Atem. Und so ist der Roman, den Lanchester vor dem Hintergrund dieses Zusammenbruchs schrieb, sehr aktuell, ein Roman, in dem der britische Autor die globale Verunsicherung angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen in einer kleinen Londoner Straße spiegelt:

"London wird immer mehr zu einer Art Mikrokosmos für das, was in der Welt geschieht. Es ist eine Stadt, wo man, wenn man sehr arme oder sehr reiche Leute sehen will, nur einmal um den Block gehen muss. London ist eine Weltstadt, in der globale Themen präsent sind, und meine Idee war eine Straße abzubilden; während die Welt auf London lastet, lastet London auf dieser Straße, Pepys Road, in der beinahe das ganze Buch spielt."

Bewohner einer Straße

Die Pepys Road ist vom Arbeiterviertel zum Luxuswohngebiet geworden, denn die Immobilienpreise sind in schwindelerregende Höhen gestiegen und wer ein Haus in der Pepys Road besitzt, gilt mittlerweile als reich. In dieser Straße siedelt Lanchester eine Reihe von unterschiedlichen Charakteren an. Der erfolgreiche Banker Roger Yount rechnet sich bereits aus, wie hoch sein diesjähriger Weihnachtsbonus sein wird, während seine verwöhnte Frau Arabella mit ihrer Ehe hadert und ihrem Mann einen kleinen Denkzettel verpassen will.

Die alte Petunia, die seit Jahrzehnten in der Pepys Road lebt, erhält mitunter Besuch von ihrem Enkel Smitty, einem Performance-Künstler, die pakistanische Familie Kamal betreibt in der Straße einen Kiosk und die nigerianische Politesse Quentina verteilt Strafzettel, ohne eine Arbeitserlaubnis zu haben. Der senegalesische Fußballstar Freddy Kamo, dem sein Manager ein Haus in der Pepys Road zur Verfügung gestellt hat, hofft auf den großen Erfolg, während sein Vater England skeptisch gegenübersteht, und der polnische Handwerker Zbigniew, der immer wieder zu Reparaturarbeiten gerufen wird, verliebt sich in das Kindermädchen der Younts, weiß aber nicht recht, wie er sich ihr nähern soll. All diese Charaktere sind erfunden, aber sie haben einen realen Hintergrund, sagt Lanchester:

"Der Banker im Roman erwartet einen Bonus in Höhe von einer Million Pfund, er braucht diesen Bonus in diesem Jahr, 2007, vor dem Crash. In der Gegend, in der ich wohne, gibt es viele Leute, die im Finanzsektor arbeiten, und ich erinnere mich, gehört zu haben, dass ganz normal aussehende Nachbarn in einem guten Jahr eine Million Pfund als Weihnachtsbonus erhalten können. Es erschien mir so verblüffend, so bizarr, dass die Bonuszahlungen im Finanzsektor so hoch geworden sind, und ich begann darüber nachzudenken, wie es wäre, diese Person zu sein. Es gibt auch einen polnischen Arbeiter in dem Roman, Zbigniew, der in den Häusern Renovierungsarbeiten übernimmt. Wir hatten einen polnischen Anstreicher bei uns, und er hatte einen Laptop und während er arbeitete, handelte er mit Aktien und Anleihen, er ging immer wieder zum Computer und sah nach dem Aktienpreis und dann arbeitete er weiter. Ich weiß sonst gar nichts von ihm, aber das wurde zum Ausgangspunkt dieses Charakters."

Das andere Kapital

Eines Tages erhalten die Bewohner der Pepys Road merkwürdige Postkarten mit dem Bild ihres jeweiligen Hauses, auf denen eine beunruhigende Nachricht steht: "Wir wollen, was Ihr habt". Niemand weiß, wer hinter der Aktion steckt, und so landet die Angelegenheit bei der Polizei, wo sich Kriminalinspektor Mill damit befassen muss.

John Lanchesters Roman ist kein Krimi: Die Aufregung um die merkwürdigen Postkarten ist wohl ein wichtiges Handlungselement, wichtiger aber ist für Lanchester, wie die Hausbesitzer in der Pepys Road darauf reagieren. Und nicht ganz von ungefähr trägt der Roman den schlichten Titel "Kapital", wie er erklärt:

"Alle Charaktere denken an 'Kapital' als etwas ausschließlich Wirtschaftliches. Wenn sie diese Karten mit 'Wir wollen, was Ihr habt' bekommen, denken sie alle an Immobilienpreise. Sie machen alle denselben Fehler, sie alle unterschätzen das andere Kapital in ihrem Leben, das emotionale, familiäre Kapital, sie machen den Fehler zu denken, dass der Wert das Gleiche ist wie die Kosten."

Gesellschaftskritisch und unterhaltsam

Dass der Titel auch an Karl Marx erinnert, kommt dem Autor dabei sehr gelegen: "Was mich an Marx wirklich interessiert, waren seine Überlegungen, woher der Wert kommt. Er gibt dem einen ökonomischen Rahmen, aber man muss diese Frage nicht nur ökonomisch stellen. Man kann sie genereller stellen: Was schätzen die Menschen? Und das war mein zentrales Interesse in dem Buch. Man könnte das an Großbritannien und an der westlichen Welt kritisieren, dass wir ökonomische Werte für das Wichtigste halten."

So ist John Lanchesters Roman in erster Linie ein gesellschaftskritisches Werk, aber diese Kritik ist außerordentlich unterhaltsam verpackt. Fast 700 Seiten umfasst das Buch und oft passiert gar nicht besonders viel, aber Lanchesters ruhige und detaillierte Erzählweise, seine scharfe Beobachtungsgabe und seine großartigen Charakterzeichnungen lassen eventuelle Längen schnell vergessen.

Die Frage, wer denn nun die seltsamen Postkarten geschickt hat, wird am Ende natürlich beantwortet – aber eigentlich geht es um etwas anderes, nämlich um die alte Weisheit, dass Geld nicht glücklich macht, eine Erkenntnis, der John Lanchester ein erfrischend neues Gesicht gegeben hat:

"Geld macht die Charaktere im Buch nicht glücklich, weil sie nie aufhören, etwas zu wollen. Es hat auch mit der Tatsache zu tun, dass wir als erste Menschen in der Geschichte dauernd von Dingen umgeben sind, die wir wollen sollen. Jeden Tag sagt man uns, wenn wir dies oder das tun, macht es uns glücklich, wenn wir das kaufen oder besitzen oder tun, werden wir glücklich sein. Ich denke, das setzt sich in unseren Köpfen fest."

Service

John Lanchester, "Kapital", aus dem Englischen übersetzt von Dorothee Merkel, Klett-Cotta

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