Der unbekannte Victor Gruen

Die Fußgängerzone im ersten Wiener Gemeindebezirk. Punschstände verbreiten vorweihnachtliches Flair. Am Wiener Graben baumeln überdimensionierte Kandelaber in luftigen Höhen, in der Kärntnerstraße leuchten nicht weniger auffällige Girlanden. Die Innenstadt hat sich herausgeputzt. Ab Mitte November wird hier Weihnachtsstimmung verbreitet.

Die Wiener Innenstadt, beklagt die Filmemacherin Katharina Weingartner, sei zur kommerziellen Kampfzone geworden, zur Shoppingzone, zur Kulisse eines touristischen Paralleluniversums. Hier wird nicht mehr gelebt, könnte man sagen, hier wird nur noch konsumiert. Hinter prunkvollen Gründerzeitfassaden und schicken Einkaufstempeln aus hellem Sandstein präsentieren sich globale Marken. Ein schwedischer Bekleidungsriese hat sich in einem Geschäftslokal breitgemacht, in dem zu Kaisers Zeiten die Haute Volée verkehrte. "E. Braun Berlin Karlsbad Prag" ist auf der denkmalgeschützten Fassade immer noch zu lesen. Seit 2004 wird hier nicht mehr feinstes Tuch, sondern Massenware aus Fernost angeboten. Europas Innenstädte sind austauschbar geworden, sagt die Kulturwissenschaftlerin Anette Baldauf.

Hier, in der Wiener Innenstadt, begann auch die Karriere des Architekten und Stadtplaners Victor Gruen. "Als Vater der Shopping Mall" ging Gruen in die Geschichte der Architektur ein. Bereits in den 1940er Jahren entwarf der emigrierte Jude Gruen in den USA das Konzept der "Shopping Towns". Erst Jahre später, nämlich 1954, baute er seine erste Shopping Mall in der amerikanischen Motorcity Detroit. Die Shopping Mall sollte nicht nur Geschäfte beherbergen, sondern auch kulturelle Einrichtungen, Kindergärten, Postämter und Begegnungsstätten. Eine Mischung, die an die Zentren europäischer Städte erinnert.

Die Isolation in der Vorstadt

Anette Baldauf arbeitet gemeinsam mit Katharina Weingartner daran, dem Erbe Victor Gruens einen gebührenden Platz in der Architekturgeschichte einzuräumen. Gemeinsam haben die beiden den Dokumentarfilm "Der Gruen Effekt. Victor Gruen und die Shopping Mall" gedreht. Im Moment arbeiten Baldauf und Weingartner an der Veröffentlichung von Gruens Autobiografie.

Gruen werde oft als Shopdesigner abgetan, sagt Anette Baldauf. Seine urbanistischen Pionierleistungen sind großteils in Vergessenheit geraten. Dass die Shopping Towns in der Umsetzung zu Verkaufsmaschinen wurden, zu Tempeln des Kommerzes, empfand Victor Gruen Zeit seines Lebens als Pervertierung seiner Idee. Gruen, durch und durch Europäer, wollte Zentren, ja mehr noch soziale Begegnungsstätten in den zersiedelten Vorstadtlandschaften der US-amerikanischen Städte schaffen. Sein Vorbild war das europäische Stadtzentrum, konkret Wiens erster Bezirk. In seiner unveröffentlichten Autobiografie erinnert sich Victor Gruen an den Bau der ersten Shopping Mall in Detroits Suburbia.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wachsen die Vorstädte in den USA wie nie zuvor. Der stetig zunehmende Wohlstand macht den Traum der weißen Mittelklasse für immer mehr Menschen greifbar. Wer mit anpackte, konnte ein Haus in Suburbia und ein Auto sein eigen nennen. Diese rasante Zersiedelung wird von oberster Stelle unterstützt. GIs, die im Krieg gedient haben, erhalten staatlich gestützte Kredite. Die Bauwirtschaft boomt. Das Ergebnis freilich sind ausgefranste Vorstädte, ohne Kern, ohne Zentren, ohne Begegnungsstätten. Vor allem für die Frauen, die nach dem Ende des Krieges aggressiv vom Arbeitsmarkt verdrängt werden, bedeutet das Leben in der Vorstadt Isolation.

Freizeitbeschäftigung Shoppen

Die Shopping Mall als Befreiungsort? Bis heute ist das Bild der exzessiv shoppenden Frau, die mehr Schuhe als Bücher in ihrer Wohnung hortet, ein weibliches Zerrbild, das in dieser Form erst entstehen konnte, als Shopping zur Freizeitbeschäftigung der Massen wurde. Es ist eine Art Identitätsangebot, das in den Werbebotschaften der 1950er Jahre massenwirksam verstärkt wird.

Shopping wird zum Betätigungsfeld der Frauen, denen die Teilhabe am beruflichen und öffentlichen Leben versagt wurde. Nach dem Krieg wird der Massenkonsum zur treibenden ökonomischen Kraft. Man braucht die kaufwütigen Frauen als Motor der Wirtschaft. Im anbrechenden Zeitalter des Konsumkapitalismus hat Victor Gruens Idee einer durchmischten Nutzung der Shopping Mall keine Chance.

Mit den Verkaufsmaschinen, in denen jeder Quadratmeter kommerziell genützt wird, wollte Gruen später nichts mehr zu tun haben. Er weigere sich, sagte er einmal, Alimente für diese Bastardprojekte zu bezahlen. Dass sein Architekturbüro Gruen Associates mit Niederlassungen in Los Angeles, New York und zahlreichen anderen Städten, unzählige Shopping Malls realisierte - alleine in den USA baute Gruen an die 50 Shopping Malls -, lässt seine heftige Abwehrreaktion aber auch ein wenig fraglich erscheinen.

Den "american way of life" mitgeprägt

Mit der Erfindung der Shopping Mall hat Victor Gruen das Erscheinungsbild der amerikanischen Stadt, ja mehr noch den "american way of life" entscheidend geprägt. Trotz, oder vielleicht wegen dieses Erfolgs kehrt der jüdische Migrant Victor Gruen, geborener Grünbaum, in den 1960er Jahren nach Wien zurück. In Wien endet und beginnt Gruens berufliche Laufbahn. In den 1930er Jahren verdient er sich erste Sporen als Shopdesigner – wie man heute sagen würde. Mit transparenten Glasfronten und dramatischer Beleuchtung verhalf Gruen einigen vornehmen Geschäften der Wiener Innenstadt zu einem spektakulären Auftritt.

Auf der damaligen Nobelmeile 5th Avenue gestaltete er einige Geschäftsfassaden. Architekturzeitschriften wie Tageszeitungen applaudierten Gruens neuen Ideen für Manhattans Shoppingdistrikt. Die Entwicklung der Shopping Towns war für Gruen eine logische Weiterentwicklung seiner Arbeiten im Bereich der Geschäftsarchitektur.

Plädoyer für eine autofreie Stadt

Zurück in Wien arbeitet Victor Gruen einen Plan für die Wiener Innenstadt aus. Er hat Kontakte zur Stadtregierung. Bürgermeister Felix Slavik kennt Gruen aus der Zeit des "Politischen Kabaretts", wo Slavik als Kulissenschieber tätig war. Gruens Plan für Wien ist revolutionär. Der gesamte 1. Bezirk soll zur autofreie Zone werde. In einer Zeit, in der weder Feinstaub- noch andere Umweltbelastungen ein öffentliches Thema waren, stieß Gruens Forderung auf völliges Unverständnis.

In den USA hatte Gruen erlebt, wie Städte für die Bedürfnisse der Autofahrer geplant und gebaut wurden. Die Stadt der Moderne sollte autogerecht, nicht menschengerecht sein. Diese "Autoneurosis" – so nannte es Gruen – griff auch in Europa um sich. Eine Stadtplanung, so Gruen, die von Autofetischisten erdacht sei, die Straßenbahnen, Autobusse und Bäume als Hindernisse wahrnehmen. Ihnen, so schreibt Gruen, wollte er beibringen, was ein Fußgänger ist.

Die erste Fußgängerzone

Von Gruens großem Plan für Wien blieb nicht viel übrig. 1970 wird immerhin die erste Wiener Fußgängerzone in der Kärntnerstraße eröffnet. Sie stieß zunächst auf den erbitterten Widerstand mancher Geschäftsleute, die Umsatzeinbußen fürchtete - eine Befürchtung, die freilich nicht eintraf. Im Gegenteil.

Victor Gruen, ein jüdischer Emigrant aus Österreich, kulturell verwurzelt im roten Wien der Zwischenkriegszeit. Ein Gestrandeter, der das Zentrum seiner alten Heimatstadt in die amerikanische Vorstadt verpflanzen wollte. Die Ironie der Geschichte sah freilich anderes vor. Denn: Die Shopping Malls orientierten sich nicht an den europäischen Stadtzentren, sondern die europäischen Innenstädte wurden zunehmend zu Open Air Shopping Malls.