Tableau von Paris

Der Traum Baudelaires

Roberto Calassos Baudelaire-Buch beginnt delikat. Der Dichter schlägt seiner Mutter Caroline ein Treffen im Louvre vor. "Es ist der Ort, wo sich am besten plaudern lässt; er ist geheizt, man kann warten, ohne sich zu langweilen, und überdies ist es der Ort, der sich am besten für ein Rendezvous mit einer Dame schickt."

Pikant ist die Szene, weil das Ganze heimlich passiert: aufgrund seines liederlichen Bohème-Lebens vom Stiefvater verstoßen, hatte Charles Baudelaire zwar eine Apanage erhalten, dem 23-Jährigen war aber zur Verwaltung seines bescheidenen Vermögens, das ihm das Leben eines Privatiers ermöglichte, einen Vormund beigestellt worden: die prickelnde Heimlichtuerei kommentiert Calasso so:

Die Malerei "fühlen"

Vom Dichter-Revolutionär, der sich in der Revolution des Jahres 1848 engagieren wird - und unmissverständlich die Erschießung seines Stiefvaters, des Generals Aupick verlangt - sind wir hier noch weit entfernt; entfernt auch noch vom Dichter der "Blumen des Bösen", denen 1857 wegen "Beleidigung der öffentlichen Moral" der Prozess gemacht wurde.

Calassos Buch ist weniger eine Dichter-Biografie, die Leben und Werk verknüpft, der italienische Autor und Verleger nimmt Baudelaire vielmehr zum Anlass, ein dicht gewebtes Tableau der Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts Paris zu entwerfen, in dessen Zentrum sich Baudelaire befindet. Baudelaire in den Salons, in seinen Affären, in den Ateliers, Baudelaire in seinen Essays und Artikeln über befreundete Künstler, in seinen Briefen und Reflexionen über Langeweile, Ekstase, Tod und Natur.

Altmodisch gesprochen, formierte sich Baudelaires Weltbild an der Betrachtung von Malerei - und zwar durch einen radikal subjektiven Zugang: "Ich begnügte mich damit, zu fühlen." Daran knüpfen sich allerdings keine beliebigen Assoziationen, sondern rabiat sich aufschwingende Gedankensprünge von ziemlich kategorischem Charakter: "Ich war immer der Meinung, dass in der blühenden und verjüngten Natur etwas Schamloses und Betrübliches steckt." Oder: "Das Schöne ist nur die Verheißung des Glücks." Der jeweils besprochene Maler mag heute längst vergessen sein - bei Baudelaire kommt immer eine Mischung aus Autobiografie, Kulturgeschichte und Metaphysik heraus.

Die "fantastischen Libertins"

Kenntnisreich durchforstet Calasso das intellektuelle Feld, auf dem sich Baudelaire bewegt: Da ist von Diderots und Stendhals Kunstbetrachtungen und deren Einfluss auf Baudelaire die Rede; einer genaueren Betrachtung wird das Verhältnis zu Ingres unterzogen, dem Maler von Odalisken und Frauenakten in türkischen Bädern. "Welche Götter können in einer götterfernen Zeit noch gezeigt werden?" fragt Calasso mit einigem Pomp.

Von den Bildern des "fantastischen Libertins", dessen Malerei die größte Annäherung an den Fetischisten" erreichte, ist es nicht mehr weit bis zu Baudelaires wollüstigien Gesängen auf Frauen, Hetären und Katzen samt Edelsteinen. Am Beispiel Delacroix wird die Frage aufgeworfen, warum die Maler eigentlich jahrhundertelang kein Bedürfnis hatten, ein zerwühltes Bett darzustellen.

Ein mysteriöses Wesen

Im Zentrum des Buches steht Baudelaires "Traum vom Museumsbordell" vom 13 März 1856: Der Dichter träumt davon, der Chefin eines großen Bordells ein Buch zu überbringen. Mit heraushängendem Penis betritt er das mit ägyptischen Zeichnungen, Bildern von Vögeln und medizinischen Präparaten vollgepfropfte Etablissement, in dessen Nischen sich junge Mädchen räkeln. In der Mitte des Raumes befindet sich ein mysteriöses Wesen:

Es sei der kühnste Traum des 19. Jahrhunderts, befindet Calasso, in dem sich nicht nur eine Vision von Baudelaires eigenem obszönem Buch, den "Blumen des Bösen", ankündigte, sondern die Welt von Wissenschaft und Fortschrittsglaube eine entscheidende Absage erhielt. Die Moderne - ein in Hinkunft nutzloses Unternehmen.

Abgründe aller Art

Baudelaire habe mit seinen Gesängen auf Abgründe aller Art zurückgegriffen, die von keiner Aufklärung je einzuholen seien. Baudelaire, das ist nicht die Fortschreibung einer klassischen Form, sondern der schillernde Abgesang auf das Leben selbst, eine bedrohlich glitzernde Hymne auf die Naturgeschichte.

In der Welt der Heraufziehenden Kulturindustrie, in der Literatur zum Fortsetzungsroman der mit Werbung gespickten Zeitungen mutiert und deren Verfasser sich als "Prostituierte der Intelligenz" darstellt, ist auch hinter dem Dandytum kein besonders "ästhetischer" Rausch verborgen: Das Werk des Dichters ist nichts als Arbeit:

Nach Beaudelaire

Nicht zufällig umriss der franko-rumänische Philosoph Emile Cioran die Geschichte seit Menschenbeginn bis zur Gegenwart in äußerster Verknappung folgendermaßen: "Von Adam bis Baudelaire". Alles, was in Kunst und Literatur nach Baudelaire kam, war nur noch Untergang - das Bürgertum brachte keinen einheitlichen Stil mehr hervor, die Welt fiel in die Hände von Innendekorateuren aller Art. Deren definitiver Schlusspunkt war das Jahr 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Roberto Calassos "Der Traum von Baudelaire" ist vermutlich der letzte, gewiss aber der seit langem opulenteste Versuch, noch einmal eine Art großer Kunstreligion, die ohne Religion auskommt, als Kulturgeschichte zu entwerfen. Da finden sich höchst gebildete Exkurse zu Manet und dem Impressionismus, über Fotografie und Degas' fast anrüchige Zeichnungen von kindlichen Balletttänzerinnen, Überlegungen zu den Begriffen "Moderne" und "Dekadenz" und immer wieder trifft man auf Merk-Sätze wie: "Für Baudelaire war die Dichtung keine Kommandoaktion des Lebens"

Über die Trauer dieser Vollendung im ausgehenden 19. Jahrhundert vermag auch Calasso nicht hinwegzutäuschen: Baudelaires Nachgeschichte bei den "Yankees", bei den Nazis und bei den Kommunisten haben endgültig klar gemacht: In dieser Welt leben wir nicht mehr. Das letzte Wort habe dementsprechend auch Charles Baudelaire selbst: In "Le gout du neant" - "Der Geschmack des Nichts" - heißt es: "Avalanche, veux-tu m'emporter dans ta chute?” - "Lawine komm, im Sturz mich zu umfangen!"

Service

Roberto Calasso, "Der Traum Baudelaires", aus dem Italienischen von Reimar Klein, Hanser Verlag

C. Hanser - Der Traum Baudelaires