"Sesam Öffne Dich"

Die Offenheit ist wieder groß in Mode, zählte aber immer schon zu den positiven Werten der bürgerlichen Gesellschaft. Der große Wissenschaftstheoretiker Karl Popper entwarf in seinem sozialphilosophischem Werk+ die Theorie, dass die große Entdeckung des klassischen Griechenlands die "offene Gesellschaft" war, die sich aus den geschlossenen Stammesgesellschaften heraus entwickelte.

Die zentralen Werte der offenen Gesellschaft in der Lesart Poppers waren von den kosmopolitischen und aufgeklärten Wiener Salons der vorigen Jahrhundertwende inspiriert. Zu diesen Werten zählte die Individualität, aber auch die Freiheit im Sinn, autonom Entscheidungen treffen zu können, ebenso wie die Toleranz andersdenkenden gegenüber. Diese Werte sah Popper bedroht von neuen Formen des Totalitarismus, insbesondere durch Faschismus und Kommunismus.

Person mit offener Brust

(c) MORRISON, EPA

Heute haben wir es mit einem neuen Typ von Offenheit zu tun: Offenheit als Prinzip innerhalb gesellschaftlicher Vorgänge und Prozesse, wo diese traditionellerweise nicht zur Anwendung kam, wie z.B. in der Open Innovation, in der Open Source Software, bei Open Data und bei Open Access Publishing, um nur einige Beispiele zu nennen. Jedes dieser Phänomene, für sich genommen, ließe sich in einem engen Rahmen interpretieren. So geht es in dem einen Fall um die Entwicklung neuer Produkte, im anderen um Software, um Transparenz in der Regierung, usw. Zusammengenommen verweisen jedoch alle diese Phänomene auf etwas anderes, größeres: die Möglichkeit eines breiten gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Partizipation und Demokratie.

Im 20. Jahrhundert hat sich ein spezifisches Organisationsmodell gebildet, das der "Corporation", das hierarchisch geführte Großunternehmen mit seinen verschiedenen Abteilungen. In diesem vertikalen Modell versuchte das Unternehmen, möglichst viele Funktionen zu kontrollieren, so auch die Innovation, die in abgeschirmten Forschungslabors stattfand. Es wäre unweise dieses Modell vorschnell als veraltet abzuschreiben. Einige dieser Labors, wie z.B. AT&T Bell Labs, Xerox Parc oder das MIT haben großartige Leistungen erbracht und die grundlegenden Informationstechnologien entwickelt, von denen wir heute noch zehren. Das vertikal intergrierte und hierarchische Großunternehmen ist jedoch spätestens in den 1970er Jahren in eine Krise geraten. Die verschiedenen Umstrukturierungsprogramme, die seither versucht wurden, haben zwei Tendenzen, die sich nur vordergründig widersprechen, nämlich eine Straffung zentraler Kontrolle bei gleichzeitiger Dezentralisierung.

Parallel zu diesen Entwicklungen ereignete sich eine andere, digitale Revolution. Seit den 1980er Jahren gibt es erschwingliche PCs für jederfrau und jedermann, und seit den 1990ern ist das Internet allgemein zugänglich. Es wäre nun freilich falsch das Internet zum alleinigen Auslöser dieser diagnostizierten Tendenz zur Demokratisierung zu machen. Die Technologie allein sollte nicht als der "unbewegliche Beweger sozialen Wandels" betrachtet werden, warnt der in Cambridge lehrende Wissenschaftsphilosoph Simon Schaffer. Das Internet hat jedoch Bedingungen geschaffen, die es ohnehin bereits vorhandenen sozialen Strömungen ermöglichte, zusammen zu finden und breiter und tragender zu werden. Neben der bereits erwähnten dezentralen Management-Philosophien zählte dazu eine Tendenz zur anti-autoritären Gesinnung in den Nach-68er Generationen. Während der Revolten von 1968 waren Mitbestimmung, Basisdemokratie und andere Formen demokratischer Partizipation von politisch radikalen Gruppen gepredigt worden. Später jedoch lösten sich diese Formen der Partizipation vom radikalen politischen Inhalt und fanden eine viel breitere Basis in der Gesellschaft.

Einen bestimmten Level an Partizipation finden wir heute normal, wir erwarten es geradezu. Und hier kommt das Internet ins Spiel. Das Netz hat mit der Open Source Software ein Modell hervorgebracht, wie erfolgreich kooperiert werden kann, außerhalb der traditionell dafür bereit stehenden Fassungen entweder des Staates oder des Unternehmens. Im Kern geht es dabei gar nicht um die Software oder Technik, sondern die Methode der Zusammenarbeit. Programmierer arbeiten zusammen, einfach indem sie sich gegenseitig den Quellcode der Programme zur Verfügung stellen. Der Erfolg dieses Modells war so überzeugend, dass Open Source heute von vielen Firmen unterstützt wird, einfach weil es das beste Modell zur Software-Erzeugung ist.

Mittlerweile hat man erkannt, dass sich auf eine ähnliche Art und Weise auch andere Dinge entwickeln lassen, nicht nur Software. Firmen und andere Organisationen öffnen sich und stellen einen Mechanismus zur Verfügung, wie sich andere - seien das Kunden, Expertenkreise oder bestimmte "Stakeholders" - an Problemlösungen beteiligen können. Auch die Verwaltungsorgane von Staaten schaffen Möglichkeiten für mehr Bürgerbeteiligung. Der englische Kommunikationsguru Charles Leadbeater nennt alle diese Prozesse wie im Titel seines Buches "We-Think"++, eine Form der Gruppenintelligenz, die der klassischen Form der Problemlösung überlegen sei.

Alle diese Formen der Öffnung von Prozessen für mehr soziale Teilhabe verweisen auf eine Weiterentwicklung, die sich Karl Popper nie hätte träumen lassen. Sein Denken war noch ganz geprägt vom Widerspruch zwischen liberaler, marktwirtschaftlicher Demokratie und totalitären Systemen. Mit den Formen der Offenheit, die das Netz heute bietet, sind jedoch Formen von Kollektivität möglich, die ohne Zwang auskommen. Je nach Anliegen und Projekt ermöglicht das Netz nach oben offene und verschieden skalierbare Formen der Solidarisierung, der Selbstorganisation, der Kollaboration. Möglicherweise wurden also bereits erste Schritte hin zu einer noch viel offeneren Gesellschaft getan, doch ebenso wie die "offene" hat auch diese ihre Feinde und Widersprüche (doch davon nächstens mehr).

Text: Armin Medosch, Autor und Medienwissenschaftler

Service

+ Popper, Karl R., "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons",Tübingen: Mohr

++ Leadbeater, Charles, "We-Think: Mass Innovation, Not Mass Production", 2nd ed. Profile Books.