Erzählung einer Jugend
Granatsplitter
Im Krieg gibt es manchmal sonderbare Spiele. In Köln spielte 1939/40 eine Gruppe von Kindern mit dem, was vom Himmel fiel: mit Granatsplittern. "Es gab sie in allen Größen, in allen Farben, keiner war wie der andere. An den Rändern waren sie aufgerissen, gezackt, von unterschiedlicher Schärfe. Wenn man sie unvorsichtig anfasste, konnte man sich die Finger aufreißen", erzählt der Autor
8. April 2017, 21:58
Die Granatsplitter waren aus großer Höhe heruntergefallene Metallstücke, die von den explodierenden Flakgranaten deutscher Abwehrgeschütze stammten, die englische Flugzeuge treffen sollten. Die Kinder, darunter auch ein achtjähriger Junge, suchten, sammelten und tauschten sie, waren sie doch für sie alles andere als Schrott.
"Die Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte", sagt Karl Heinz Bohrer. "Manche waren von dunkel leuchtendem Rot und Schwarz an den Rändern, andere hatten eine bläulichweiße Färbung, und wieder andere waren von gleißendem Gelb oder Silber. Es war wie ein Märchen - man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand, das ihm das Gefühl gab, fortan Glück zu haben."
Frühe Kriegseindrücke
"Granatsplitter. Erzählung einer Jugend" nennt Karl Heinz Bohrer sein Buch, das mit den funkelnden Metallstücken und ihrer wundersamen Aura beginnt und die Geschichte eines Jungen zwischen 1939 und 1953 erzählt, zwischen dessen achtem und zweiundzwanzigstem Lebensjahr; eines Jungen, der namenlos bleibt und doch kein anderer ist als der junge Karl Heinz Bohrer selbst.
Es spannt den Bogen von frühen Kriegseindrücken in Köln bis zu Apfelernte und Theaterbesuchen im England der frühen 1950er Jahre, rekapituliert prägende Begegnungen und Eindrücke, Lektüreerfahrungen und Erlebnisse. Und doch ist es für den Autor, wie er im Postscriptum bemerkt, "nicht Teil einer Autobiografie, sondern Phantasie einer Jugend. Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren".
"Das heißt, dieser permanente Eingriff des allwissenden Autobiografen, der sich selbst erklärt und der sich selbst 30 Jahre vorher oder 50 Jahre vorher erinnert, das sollte nicht stattfinden", so Bohrer. "Das wollte ich nicht. Wahrscheinlich spielen auch amerikanische Jungenerzählungen, natürlich 'Tom Sawyer und Huckleberry Finn', eine gewisse Rolle, die mich immer angezogen haben. Und als ich feststellte, ich habe eine abenteuerliche Jugend gehabt, eine sehr schöne, spannende Jugend, damals an den Rändern von Köln und später auf dem Internat, da dachte ich, das muss erzählt werden. Das ist also mit anderen Worten ein autobiografischer Stoff, aber nicht eine autobiografische Perspektive und Erzählhaltung."
Eine Kindheit im Zeichen des Krieges
Karl Heinz Bohrer erzählt eine Kindheit im Zeichen des Krieges, bei der Tod und Krieg dennoch lange Zeit "unverständliche Worte" bleiben, jedenfalls nicht mit brutaler Zerstörung und Massenmord assoziiert werden. Den Jungen, den schon früh das Heimlich-Geheimnisvolle, das Funkelnde und Prächtige, das über das Alltägliche Hinausgehende fasziniert, beeindrucken Martinszüge, Weihnachtslieder, das Hochamt in der Kirche, er beneidet die Messdiener, spielt auf dem Speicher des großelterlichen Hauses Heilige Messe und begeistert sich, wie erwähnt, für Granatsplitter, in denen er "Geheimzeichen" sieht, einen Schutz, "von dem geheime Kräfte ausgingen", "ein Mittel gegen alle Unbill des täglichen Lebens". Mögen sie auch später ihre Wirkung auf ihn verlieren, so bleiben sie doch eine "ständige Aufforderung, etwas Ähnliches (...) zu finden".
Dieser Junge ist ein Scheidungskind, die Eltern trennen sich früh. Die Mutter, blutjung, elegant, unbekümmert und impulsiv, schön wie Greta Garbo, steht für Lebensfreude und Glamour, der Vater, ein Nationalökonom, für Geradlinigkeit und Realitätssinn, Charakterfestigkeit und Mut. Einmal schlug er einen Nazi, der einen Juden anpöbelte, zu Boden. Faschistische Parolen fanden in dieser Familie keinen Widerhall.
"Da war eine Art von tiefer Reserve, und dann schließlich, als die Nazis kamen, Verachtung, Furcht und Hass", sagt Bohrer. "Das erklärt vielleicht dann auch, dass ich nie bei den Pimpfen war, nicht Hitlerjunge, das hat mein Vater verhindert. Daraus erklärt sich also die Art dieses liberalen und ausgesprochen atypischen Großwerdens. Denn man darf ja nicht vergessen, dass ein Großteil auch sehr seriöser, ernstzunehmender deutscher Intellektueller, vor allen Dingen Geisteswissenschaftler, überzeugte Nationalsozialisten wurden. Das alles war im Hause Bohrer ganz fremd, nicht einfach nur, weil sie mutig waren oder besser, sondern weil sie Rheinländer waren und permanent in Belgien, in Frankreich, in Holland. Es war eine völlig andere Atmosphäre."
Rückkehr in eine brennene Stadt
Mit neun kommt der Junge auf ein Internat in Süddeutschland, weit weg von der kriegerischen Realität, auf den Birklehof, eine Eliteschule, wo "die Ideen des neuen Staates nicht besonders ernsthaft befolgt wurden". Er begeistert sich für Latein, für Griechisch, für Literatur, Theater und Theaterspielen. Gegen Kriegsende kehrt er zurück in die Heimatstadt Köln - und kommt in eine brennende Stadt, zerstört von Brandbomben, Luftminen und Phosphorgranaten. Er sieht verbrannte Menschen und zerfetzte Körper - und "eine abgestürzte fliegende Festung": ein amerikanisches Flugzeugwrack mit einem toten "Negersoldaten" mit Pilotenhaube. Ein bleibender Eindruck, genauso wie später der Anblick einer Litfaßsäule mit schrecklichen Bildern.
"Das ist die erste Konfrontation des Jungen mit dem KZ", sagt Bohrer. "Nämlich auf die Litfaßsäule 1945 vor seiner Schule oder auf dem Weg zur Schule haben die Engländer riesige Fotografien (geklebt) von dem, was sie in den Konzentrationslagern, lange vor Auschwitz, im Westen fanden. Diese grauenhaften Bilder von überlagerten Körpern, nackten Körpern, die übereinander hingen, leblos und in einer Form schon entmenscht, dass ohne jede Information der Junge tagelang davon gefesselt war."
Suche nach dem "ganz Besonderen"
Bohrers "Held" hat ein Faible für das Unbekannte, Wunderbare und Geheimnisvolle, für das Erhabene und das Erhebende, er flüchtet in "Träumereien und Gedankenflüge", er sucht die "plötzlichen Überraschungen, das Unvorhergesehene", "das Großartige, das ganz Besondere". Wer will, kann diese "Erzählung einer Jugend" als eine Art Prolegomena zu den späteren großen Themen des Essayisten Karl Heinz Bohrer lesen, zu Büchern mit Titeln wie "Die gefährdete Phantasie", "Die Ästhetik des Schreckens", "Plötzlichkeit" oder "Ekstasen der Zeit": Hier scheint auf, was dort ausformuliert wird.
Nicht möglich wäre diese "Entdeckung des Geistes", der Weg hin zu einer Lebensform, die Erkenntnis mit Emotion und Ästhetik mit Politik verknüpft, ohne die Erfahrung des Birklehofs. Das humanistische Gymnasium, das freilich auch grausame Rituale unter Mitschülern kannte, vermittelte entscheidende Impulse, hier begann der Junge, die griechische Tragödie zu verstehen, aber auch Sartre, Hemingway und Cocteau, hier entstand seine Lust am Theaterspielen, an Rollen wie dem Tempelherrn, Oberon oder Rustan in Grillparzers "Der Traum ein Leben", ein Stück über "das Thema der Weltflucht, das Träumerische. Es war seine Rolle", erinnert sich der Autor.
"Ich habe diese berühmte Rekonstruktion eines verlorenen Augenblicks der Erinnerung gewissermaßen umgedreht", meint Bohrer. "Denn diese Erinnerung von Proust ist ja dadurch charakterisiert, dass sie unmittelbar kommt, nicht erzwungen, nicht mittelbar, gewollt. Ich wollte etwas erzwingen, und so saß ich immer stundenlang und habe mich konzentriert auf Szenen, auf Farben, auf Menschen, und habe dann immer Sätze aufgeschrieben. Das ist nicht einfach nur identisch mit einer faktischen Erinnerung. Das ist die Möglichkeit, per Worte, per Wörter noch einmal so etwas hervorzubringen - das verlorene Stück der Vergangenheit präsent zu machen."
Bruchstücke einer Adoleszenz
Bohrers Geschichte ist die Geschichte eines Jungen, den seine Sensibilität, sein Schönheitssinn und seine Träumereien, sein Suchen nach dem Zeichenhaften und Nicht-Alltäglichen zu einem außergewöhnlichen Jungen machen. Man mag erstaunt sein über Scharfsinn und Intelligenz dieses Teenagers, der schon als 13- oder 14-Jähriger über "höhere" und "niedere Gerechtigkeit" reflektiert - und sich fragen, entspricht das nun tatsächlich dem, was dieser "Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren", wie der Autor vorgibt?
Aber man muss am Ende doch bewundernd feststellen, wie souverän hier Bruchstücke einer Adoleszenz zusammengefügt werden, wie hier, weitab von jeder geläufigen Memoirenliteratur, von jeder Geschwätzigkeit oder Anekdotenverliebtheit, ein eindringliches Persönlichkeits- und Zeitbild entworfen wird - spröde im Stil, präzise im Detail, unbestechlich im Blick. Die unaufgeregte Erzählung einer aufregenden Jugend, die mit der Entdeckung von "Granatsplittern" begann, die alles andere waren als Schrott.
Service
Karl Heinz Bohrer, "Granatsplitter. Erzählung einer Jugend", Hanser Verlag
Hanser - Granatsplitter