Existenzialistischer Roman von Dino Buzzati

Die Tatarenwüste

"Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." So lauten die zwei zentralen Sätze aus Albert Camus' philosophischem Hauptwerk "Der Mythos von Sisyphos". Der Mensch muss das Absurde annehmen, um dann gegen eben dieses Absurde zu revoltieren, um sich so schlussendlich selbst befreien zu können.

Das Hinnehmen des Absurden, das Aufgehen in der täglichen Routine, die keinen Sinn und keinen Zweck hat, außer eben das ihr zugrunde liegende Absurde am Leben zu erhalten, das ist das zentrale Motiv in Dino Buzzatis Roman "Die Tatarenwüste". Erschienen 1940, also knapp bevor Camus seine Hauptwerke publizierte, ist dieses Buch ein prototypisch existenzialistischer Text.

Eine seltsame Festung

Im ersten Satz schon erfährt der Leser, dass Giovanni Drogo gleich nach seiner Ernennung zum Offizier seine Heimatstadt verlässt, um sich zur Festung Bastiani zu begeben. Die Festung ist ein seltsamer Ort. Kaum jemand hat von ihr gehört und niemand, den Drogo fragt, sie jemals gesehen. Der Offizier bricht also auf und reitet zur Festung. Der Tag vergeht, die Nacht bricht herein - von der Festung ist noch immer nichts zu sehen. Irgendwann kommt Drogo endlich an.

Seine Enttäuschung könnte größer nicht sein. Die Festung Bastiani ist ein heruntergekommenes Gebäude. Die titelgebende Tatarenwüste soll von der Festung aus unter Kontrolle gehalten werden. Was nicht schwer ist, denn seit Menschengedenken ist die Wüste eine Wüste, von der noch niemals ein feindlicher Angriff gekommen ist.

Am liebsten würde Drogo diesem verlassenen Ort gleich wieder den Rücken kehren. Kein Problem, meint sein Vorgesetzter. Nur könnte sich das unter Umständen als nicht sehr förderlich für die weitere Karriere herausstellen. Ob Drogo nicht vielleicht doch vier Monate bleiben möchte? Danach würde der Arzt ihm bestätigen, dass er die Höhenluft nicht vertrage und er könne zurück in die Stadt gehen. Drogo willigt ein und - so viel kann verraten werden, denn dem Leser ist es spätestens ab diesem Moment klar - Giovanni Drogo wird Bastiani sein Leben lang nicht mehr verlassen.

Das Losungswort oder...

Die abgelegene Festung ist natürlich ein existentialistisches Symbol für das Leben schlechthin. Hineingeworfen in eine Welt, in der man nicht sein möchte, umgeben von Ritualen und Vorschriften, die keinen Sinn ergeben, versucht der Einzelne einen Grund für seine Existenz zu finden.

Das Heer ist hierfür die perfekte Metapher, baut doch die militärische Logik auf blindem Gehorsam auf, auf dem minutiösen Einhalten von Anweisungen - egal wie sinnlos sie auch sein mögen.

Da sind zum Beispiel die Losungsworte. Mehrmals am Tag werden sie geändert, nur wenige Soldaten kennen sie und wer sie nicht kennt, der muss mit dem Schlimmsten rechnen. Eines Tages steht plötzlich ein Pferd vor der Festung. Keiner weiß, wo es hergekommen ist. Ein Soldat ergreift die Chance. Auf einem geheimen Weg verlässt er die Festung, holt das Pferd und will es ins Fort bringen. Nur leider weiß er das Passwort nicht. Er fleht den Diensthabenden an, ihn einzulassen. Schließlich habe man doch erst gestern gemeinsam Wache geschoben. Am Ende streckt ein Kopfschuss den um Einlass bettelnden Soldaten nieder.

Die Zeit verschwimmt

Ein anderes Mal soll die Grenze neu vermessen werden. Die Abgesandten des Nachbarstaates sind schon auf dem Weg - also muss sich auch ein Trupp aus dem Fort auf den Gipfel begeben, wo die Grenze verläuft. Die Leute aus Bastiani aber schaffen aufgrund der extremen Witterung den Aufstieg nicht. Die Anderen lassen zwei Seile herab, damit sich die Soldaten retten können, aber das kommt natürlich nicht in Frage. Die Soldatenehre verlangt, dass man sich vom Feind nicht helfen lässt. Man trotzt Wind und Wetter und um den Feinden zu zeigen, wie wohl man sich fühlt, beginnt man ein Kartenspiel. Am Schluss ist einer der Offiziere erfroren.

Diese sinnlosen Toten sind die einzigen Aufregungen, die das Leben auf der Festung zu bieten hat. Die Tage fließen dahin, die Monate verschwimmen, die Jahre vergehen im ewig gleichen Trott, ohne irgendeine Erinnerung zu hinterlassen. Aber dieses Dahinplätschern, die sinnlosen Rituale, all das gibt Sicherheit. Da oben gibt es nichts außer dem Starren in Richtung Tatarenwüste und dem Hoffen, dass von dort doch noch einmal ein Angriff kommen möge, damit die Soldaten sich im Kampf auszeichnen können.

Fremde sind Freunde, Freunde sind Fremde

Buzzati zeigt in seinem Buch die Verführungskraft der Alltagsroutine. Zuerst noch sind all die jungen Menschen sicher, nur kurz auf der Festung zu bleiben. Danach werden sie wieder in die Stadt gehen und dort Karriere machen und glücklich werden. Dass das nicht so einfach ist, erfährt Drogo bei seinem ersten Heimaturlaub.

Die Mutter erscheint ihm seltsam fremd, mit den ehemaligen Freunden, die alle einen bürgerlichen Lebensweg eingeschlagen haben, gibt es nichts mehr zu reden. Und auch mit dem Mädchen, das Drogo heiraten wollte, ist keine Kommunikation mehr möglich. Die Festung ist der einzige Ort, an dem er leben, die Kameraden die einzigen Menschen, mit denen er sprechen kann.

Beckett, Kafka, Camus. Das sind die Namen, die einem einfallen, wenn man dieses Buch liest. Und auch wenn Buzzati nicht die Kraft und das schriftstellerische Genie dieser drei literarischen Großmeister hat und auch wenn der Text manchmal ein wenig antiquiert wirkt, so ist "Die Tatarenwüste" doch ein großartiger Roman. Einer, den es neu zu entdecken gilt.

Service

Dino Buzzati, "Die Tatarenwüste", übersetzt von Percy Eckstein und Wendla Lipsius, Die Andere Bibliothek

Die Andere Bibliothek - Die Tatarenwüste