Jacques Yonnet

Rue des Maléfices

Was müssen unsere Städte schön gewesen sein, bevor wir sie verschönert haben! Was uns vielerorts als austauschbare, begradigte, bis in den letzten Winkel ausgeleuchtete Konsum- und Businesslandschaft angähnt, hatte wohl einmal Formen, die sich nicht nur nach Normen ausbildeten, war wild gewachsen und wild wachsend, voller Wunder, schmutzig, geheimnisvoll, abenteuerlich - und war bevölkert von Menschen, die man heute "Originale" nennen würde.

Eine Ahnung davon ist immerhin aufgehoben in Büchern, deren heimliche Protagonisten die Städte sind, in denen sie angesiedelt sind: Pasolinis Rom, das London von Charles Dickens, Alfred Döblins Berlin oder das New York von Joseph Mitchell. In diese Reihe gehört wohl auch Jacques Yonnets Buch über das (Zitat) "alte Paris", das 1954 in Frankreich erstmals erschienen ist und nun unter dem (naja) gewundenen Titel "Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen - Die geheime Chronik einer Stadt" auch in deutscher Erstübersetzung vorliegt.

Für Yonnet gilt, was Michel de Montaigne einmal über Paris schrieb: "Ich liebe sie (die Stadt) zärtlich, bis in ihre Warzen und Muttermale." Und so ist es das Paris der Warzen und Muttermale, des ältesten Kerns, der mittelalterlichen Gassen an der Rive gauche, der Gegend rund um die Rue Mouffetard, das er in seinem Buch zu bewahren versucht. Das stinkende Paris, nicht das parfümierte, eine Stadt der magischen Orte und der Legenden, nicht der Sehenswürdigkeiten, das bevölkert ist von Gaunern, Huren, Säufern, Lumpensammlern, Bettlerkönigen und Clochards. Es sind die Schattengestalten einer untergehenden Kultur, die in ihrer Einzigartigkeit bedroht ist vom allgemeinen Modernisierungswahn des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt von der Kontrollwut der deutschen Besatzer.

Im Widerstand

Die autobiografisch fundierte Erzählung setzt ein im Jahr 1941, nachdem Jacques Yonnet, verwundet und von den Deutschen gefangengenommen, nach Paris flieht, in den Untergrund geht und sich der Résistance anschließt. Er leitet eine geheime Funkzentrale, die im Informationsaustausch mit dem Widerstand in London Bombenangriffe auf deutsche Ziele in der Region Paris organisiert, um "die Zahl der zivilen Opfer so gering wie nur irgend möglich zu halten". Sonst ist von seiner Arbeit im Widerstand und ihren Umständen, selbst von den Begleiterscheinungen der deutschen Besatzung freilich immer nur beiläufig die Rede - so beiläufig, wie Yonnet, der sich als Anarchist versteht, die Verbrüderung mit "Monsieur Normalfranzose" ablehnt und jede patriotische oder gar ideologische Motivation bestreitet, sein politisches Engagement wider Willen bewertet:

Historische Rahmenhandlung

Yonnet stilisiert sich hier zum blasierten Nonkonformisten, der nur der eigenen Sache dient, ohne unnötig sein Gewissen zu belasten. Im Zuge seines Dienstes, für den er nach Ende der Besatzung übrigens mit dem "croix de guerre" belobigt wurde, wird er freilich immerhin zum Mörder, nachdem er 1944 einen Gestapo-Spitzel enttarnt. Für Yonnet scheint das eine wie das andere nicht weiter wichtig; jedenfalls nicht in dem Buch, das jede Auseinandersetzung um seine Rolle und seine Haltung im Kampf gegen die Nazis und ihre Kollaborateure vermeidet.

Nun gut, "Rue des Maléfices" ist kein Buch der Bekenntnisse; es ist auch kein Buch über die deutsche Besatzung oder den Widerstand: Selbst folgenschwere Ereignisse in diesem politischen Kontext (wie die Befreiung von Paris) spielen für die Dramaturgie des Erzählens kaum eine Rolle. Das alles ist nicht mehr als der historische und biografische Rahmen einer "Rahmenhandlung", die bestenfalls als gedachtes Gerüst existiert.

Man hält sich trotzdem gerne daran fest, weil einem das Buch sonst nicht viel bietet; jedenfalls nicht den Roman, den einem der Verlag auf dem Umschlag ankündigt. Der Autor spricht in Kapitel 17, in dem er einen selten selbstgefälligen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Buches gibt, von "voneinander getrennten Novellen" und einer "Soße", die erst nach und nach "sämiger gemacht" wurde. Karin Uttendörfer, Übersetzerin und Herausgeberin des Bandes, spricht in ihrem gleichermaßen langen wie wenig informativen Nachwort lieber von einer "Montage aus Novellen". Nun, "Soße" wäre schon nicht ganz falsch, "Montage" und Novellen sind zumindest im Deutschen etwas anderes.

Randerscheinungen der Stadtgeschichte

"Rue des Maléfices" ist in seiner Substanz eine in losem Zusammenhang komponierte Sammlung von Erinnerungen und Geschichten rund um obskure, geheimnisvolle Randerscheinungen der Stadtgeschichte; ein Kuriositätenkabinett aus Anekdoten, Porträts und Milieuskizzen. Auch das wäre immerhin etwas. Aber leider ist das, was da erzählt wird, weitgehend ohne Belang, voller Geraune und wichtigtuerisch wie eine alkoholschwangere Kneipenunterhaltung. Und leider sucht man in dieser Gesellschaft den "begnadeten Erzähler und virtuosen Sprachkünstler", den einem der Verlag verspricht, vergebens: Yonnets Prosa wirkt unbeholfen statt roh, wirkt undiszipliniert und formlos statt großzügig, dilettantisch statt sorglos, ist voller Sprünge und Abstürze. Und so stolpert das Buch durch die schlecht gepflasterte "Rue des Maléfices" - aber nicht jedes Stolpern ist schon ein Kunststück.

Karin Uttendörfer lässt uns wissen, dass das Buch in Frankreich "mit zahlreichen Neuauflagen (...) immer wieder Leser wie Kritiker (betört)". Da mag es einen schon wundern, dass es trotzdem "selbst in Frankreich als Geheimtipp (gilt)". Umso rätselhafter, dass sie weder das Nachwort (15 Seiten) noch die Anmerkungen zum Text (30 Seiten) dazu nutzt, dem Leser vom Leben und von der schillernden Persönlichkeit des Autors, der 1974 gestorben ist, mehr zu erzählen. Stattdessen erläutert sie in professioneller Offenheit Übersetzungsprobleme, auf die sie einen nicht erst aufmerksam machen muss - sie lassen sich beim Lesen des Buches nicht übersehen.

Dass es in dem besonderen Fall eine Herausforderung darstellt, Klang, Farbe und Melodie der Vorlage zu treffen, muss einen nicht milder stimmen, wenn die Übersetzung nichts davon hat, sondern steril und ungelenk wirkt. Es ist schwer, sich im alten Paris zu wähnen, wenn es darin von Gestalten wimmelt, die Sätze sagen wie: "Seine Knete ist mir vollkommen schnuppe" oder: "Nun, nichts zu machen, unmöglich, in diesem Zimmer Stuss zu verzapfen."

Manche Orte bleiben besser unentdeckt, versunken in Zeit und Geschichte, als kollektiver Fantasieraum aber immerhin über ihr Bestehen hinaus lebendig. Zugegeben, man würde das Buch gerne lesen, von dem im Klappentext und im Nachwort die Rede ist: "eine geheime Chronik des alten Paris", "das opulente Panorama einer untergegangenen Welt", "ein abenteuerliches Buch". Die kaum verhohlene Entdeckerfreude von Übersetzerin und Verlag wirkt ansteckend. Eine Entdeckung ist es wohl, ja, aber nicht jede Entdeckung entschädigt einen für die Enttäuschung, die sich einstellt, wenn man sie gemacht hat.

Service

Jacques Yonnet, "Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen - Die geheime Chronik einer Stadt", aus dem Französischen übersetzt von Karin Uttendörfer, Matthes & Seitz

Matthes & Seitz - Rue des Maléfices