Bibelkommentar zu Jeremia 20, 7 - 13
Die ursprünglich anonymen Worte werden dem Propheten Jeremia in den Mund gelegt. Die kirchliche Tradition hat diesen und vier weitere ähnliche Texte im alttestamentlichen Jeremiabuch als „Konfessionen“ bezeichnet. Innere Zustände werden zur Sprache gebracht und offen gelegt.
8. April 2017, 21:58
Aber es sind eigentlich mehr als nur „Bekenntnisse“. Es geht um Klage und Anklage, um ein intensives Hadern mit Gott und den Menschen, um ein Hin und Her zwischen Gottverlassenheit und Gottvertrauen.
Man kann sich den Propheten Jeremia im ausgehenden 7. vorchristlichen Jahrhundert in Jerusalem vorstellen, wie er diese Worte spricht. Er wird als Prophet in seiner ganzen Menschlichkeit sichtbar. Jeremia brennt für seine Sache und ist gleichzeitig von seinem Prophetenamt überfordert: Er will Adonaj, den einen Gott Israels, seinem Volk nahe bringen und erntet dafür Ablehnung, Spott und Verfolgung. Seine religiöse Botschaft ist eng mit seiner politischen verknüpft: Jeremia warnt vor Allianzen mit den falschen Bündnispartnern und wendet sich gegen seinen eigenen König.
Gleichzeitig sind es Texte aus dem Volk Israel, mit denen es die Bedrohung durch Feinde – persönliche und feindliche Großmächte – schildert. Die Erfahrungen von Verfolgung, Krise und innerer Zerrissenheit sind so allgemein formuliert, dass sie immer wieder neu gelesen werden können.
Ich lade Sie ein, vor allem auf einen Vers noch einmal genauer zu hören, Jeremia 20, Vers 9: Im ersten Teil des Verses nimmt sich Jeremia vor, nicht mehr an Gott zu denken, sich nicht mehr an ihn zu erinnern und nicht mehr in Seinem Namen zu sprechen. Aber das funktioniert nicht, er gerät in einen Zustand innerer Zerrissenheit.
Im mittleren Teil des Verses heißt es: „Es wurde in meinem Herzen wie brennendes Feuer, in meinen Knochen verschlossen / aufgehalten / eingesperrt.“
Dieser über 2000 Jahre alte Text beschreibt einen Zustand, den wir heute wohl als „Burn-Out“ bezeichnen würden, das Brennen für eine Sache bis zur Erschöpfung, bis zum Ausbrennen. Das Feuer, das Wort Gottes, brennt in Jeremia, er will etwas sagen. Das Herz ist im hebräischen Menschenbild Ort des Verstandes, der Planungen und Gedanken. Die Worte brennen Jeremia im Herzen, aber sie können nicht hinaus, sie sind verschlossen, werden aufgehalten in seinen Knochen. Die Knochen, die dem Körper Stabilität und Verlässlichkeit geben, werden von Jeremia als einengend erlebt, als ein starres Skelett, das ihn hindert, sich voll zu entfalten und das göttliche Feuer wirken zu lassen.
Im dritten Teil des Verses beschreibt Jeremia seinen Erschöpfungszustand: „Ich war zu erschöpft, es zu ertragen, und konnte es nicht.“ Der Vers lässt sich auch so übersetzen: „Ich habe mich abgemüht, es – das Feuer / das Wort Gottes – in mich aufzunehmen, aber es gelang mir nicht.“ Oder so: „Ich war zu schwach, mich zu versorgen, ich habe es nicht geschafft.“ Wie kommt Jeremia aus diesem Erschöpfungszustand heraus?
Die Anfeindungen spitzen sich zu: Sogar alle Freunde lauern ihm auf. Aus dieser tiefsten Vereinsamung wendet sich der Text plötzlich – ähnlich wie viele biblische Klagepsalmen – zur Zuversicht: „Adonaj / Gott ist bei mir wie ein starker Held.“ Die Leserin oder der Hörer weiß nicht, was passiert ist, wodurch dieser Umschwung hervorgerufen wird. Nach aller Auseinandersetzung kehrt Jeremia zum Vertrauen zurück, dass Gott sich für ihn einsetzt. Er lässt Gott für ihn kämpfen. Er erlebt die Anfeindungen nicht mehr als so bedrohlich, weil er das Schicksal seiner Gegner Gott überlassen kann.
Wie Jahresringe eines Baumes sind zwei weitere versöhnliche Schlüsse an diese Klage gewachsen: Aus der vorwurfsvollen Klage vom Anfang wird die direkte Anrede an Gott als „Adonaj Zebaoth, der du den Gerechten prüfst, der du Nieren und Herz siehst.“ (V. 12). Die Gottesbeziehung ist wieder hergestellt. Gott schaut auf das Innerste des Menschen. Die Nieren sind im hebräischen Menschenbild Sitz tiefer Emotionen und großer Verletzlichkeit. Das brennende Herz und die Nieren, Verstand und Gefühl, die Not des Jeremia und aller, die ähnliche Erfahrungen machen, werden von Gott gesehen. Zuletzt wird der Kreis erweitert, von der individuellen Ebene zum ganzen Volk Israel und darüber hinaus: Die Klage mündet ein in eine Aufforderung zum allgemeinen Gotteslob.
In einem Midrasch, einer jüdischen Bibel-Auslegung aus dem Mittelalter, wird das so erklärt: „Es sprach Jeremia: ‚Singt dem Herrn! Lobt den Herrn!’ Weshalb und wofür? – ‚denn errettet hat Er die Seele des Bedürftigen aus der Hand der Missetäter.’ Wenn der Heilige, gelobt sei Er, die Israeliten erlöst, so danken nicht nur sie selbst, sondern alle Völker stimmen in den Dank ein. Er erlöste die Israeliten aus Ägypten, und alle (Völker) lobten Ihn...’“
Ich finde es faszinierend, dass dieser alte Text aus der Hebräischen Bibel Erfahrungen beschreibt, die auch Menschen in ganz anderen Kontexten machen können. Er macht Mut, sich in Zeiten der Erschöpfung und des Ausgebranntseins trotz allen Haderns und aller Fragezeichen an etwas ganz anderes, den ganz Anderen, an Gott zu wenden.