Roman von Albertine Sarrazin
Astragalus
Sie war die literarische Sensation der Jahre 1965 und 66: die 1937 in Algier als Tochter einer Spanierin und eines vermutlich arabischen Vaters geboren Albertine Sarrazin. Sie wuchs als Adoptivkind in Frankreich auf, aber mit 15 Jahren steckten ihre Adoptiveltern sie im November 1952 in eine Besserungsanstalt in Marseille.
8. April 2017, 21:58
Acht Monate später flüchtete Albertine während der mündlichen Maturaprüfung aus dem Internat. Sie schlug sich nach Paris durch und brachte sich dort mit Ladendiebstählen und Prostitution durch. Dann hatten sie und ihre beste Freundin eine gar nicht gute Idee. Sie beschlossen, eine Modeboutique zu überfallen. Albertines Freundin schoss auf die Besitzerin, und am nächsten Tag bereits wurden die beiden verhaftet. Albertine, die man während des Prozesses als "gewalttätig, durchtrieben, pervers und theatralisch" beschrieb, wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Bildung ist kein Ersatz für Freiheit
Das Gefängnis wurde zur bestimmenden Kraft im Leben von Albertine Sarrazin, und es wurde auch zum konstituierenden Element der Schriftstellerin Sarrazin. Denn die beiden Romane, mit denen sie 1965/66 für Furore sorgte, waren nichts anderes als ihre autobiografischen Erinnerungen an das Gefängnisleben. Dort holte die junge Frau zuerst einmal die Matura nach, las philosophische Bücher und schwärmte für den Surrealismus. Aber selbst das beste Buch konnte die Freiheit nicht ersetzen. Und so sprang Albertine am Karfreitag 1957 aus der zehn Meter hohen Gefängnismauer in die Freiheit.
Mit diesem Sprung beginnt ihr Buch "Astragalus". Der Astragalus ist ein kurzer Knochen und Bestandteil des Sprunggelenks. Und im Grund ist dieser titelgebende Knochen auch der Hauptdarsteller des Romans, denn bei ihrem waghalsigen Sprung verletzte sich Albertine das Sprunggelenk. Und ihr Debütroman handelt über weite Strecken von nichts anderem als ihrem nicht und nicht genesen wollenden Knochen.
Und hier sind wir schon bei einer der zentralen Schwächen dieses Textes, denn so aufregend das Leben von Albertine Sarrazin auch war, so wenig wird dieses Leben in diesem Text spürbar. Und auch die Liebesgeschichte zu Julien, jenem Mann, dem sie vor die Füße fällt, der sie aufklaubt, rettet und in den sie sich hoffnungslos verliebt, selbst diese amour fou bleibt seltsam konturlos.
Verachtung für Bürgerliches
Dafür schreibt die Autorin ausführlich darüber, dass der Astragalus nicht und nicht heilen will; dass sie im Krankenhaus liegt, die Wände anstarrt und Angst vor der Narkose hat. Dann bringt Julien Albertine bei irgendwelchen Freunden unter, Kleinkriminelle auch sie. Und wieder wird der Leser Zeuge des immer gleichen Tagesablaufs. Albertine, die versucht, mit ihren Krücken zurechtzukommen, die sich betrinkt und die auf ihren geliebten Julien wartet. Der ist mal hier, mal dort, immer damit beschäftigt, Geld aufzustellen. Als es wieder einmal nicht reicht, geht Albertine auf den Strich.
Man kennt diese Geschichten aus den französischen Nouvelle-Vague-Filmen. Albertine Sarrazin ist eine Person, die sich die Regisseure Jean-Luc Goddard oder Jean-Pierre Melville nicht besser ausdenken hätten können: jung, schön, klug, für die bürgerliche Moral nichts als Verachtung übrig habend. Solche Figuren liebte das französische intellektuelle Milieu der 1960er Jahre.
Kurz hintereinander veröffentlicht Sarrazin zwei autobiografische Romane. In "La Cavale" erzählt sie von der Monotonie im Gefängnis, vom Schmieden der Fluchtpläne und der täglichen Anstrengung, in "Astragalus" von der geglückten Flucht und ihrer großen Lebensliebe Julien.
Antiquiert wirkend
Die Medien rissen sich um die nur 1 Meter 49 große Autorin. Radio, Fernsehen, Zeitungen, jeder wollte sie interviewen, jeder wollte sie feiern. Und zu feiern verstand Albertine. Für einen Moment schien in ihrem Leben wirklich alles ein Happy-End zu nehmen. Der Geldsorgen enthoben, konnte Julien der Kriminalität abschwören und sich seinen Traum erfüllen: Er studierte Geologie.
Lange aber hielt das Glück der beiden nicht. Im Jänner 1967 musste sich Sarrazin ins Krankenhaus begeben, um ihrem Astragalus-Knochen, der seit dem Sprung vor zehn Jahren nie richtig verheilt war, operieren zu lassen. Es folgten noch einige weitere Operationen - und am 10. Juli 1967 starb Albertine Sarrazin noch nicht einmal dreißigjährig an den Folgen einer Nierenoperation.
Zweifelsohne würde das kurze, ereignisreiche Leben von Albertine Sarrazin einen guten Stoff für einen Roman oder einen Film liefern. Ein Werk über sie könnte große Literatur sein. Ihr eigenes Werk ist es nicht. Mit dem Abstand von fast 50 Jahren muss man sagen, dass "Astragalus" dem Test der Zeit nicht standhält. Die damals so hoch gepriesene Mischung von Hochsprache und Argot wirkt heute - zumindest in der deutschen Übersetzung - ein wenig peinlich. Und auch Stil und Erzählweise muten antiquiert an. Der Text funktioniert nur als autobiografisches Vehikel, als Zeugnis eines gelungenen Rehabilitationsversuches einer sehr jungen, sehr hübschen Frau. Ohne diese fast 50 Jahre alten realen Bezüge bleibt nur wenig übrig; auf sich alleine gestellt funktioniert dieser Text leider nicht.
Service
Albertine Sarrazin, "Astragalus", aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz, Hanser Verlag
Hanser - Astragalus