Novelle von Saskia Hennig von Lange

Alles, was draußen ist

"Ich blieb immer hier drinnen." Dieser erste Satz des Prosadebüts von Saskia Hennig von Lange steht in spannungsvollem Kontrast zu seinem Titel "Alles, was draußen ist".

Hier drinnen - das ist in einem anatomischen Museum. Der Mann, der es betreibt und der es, wie sich im Verlauf des Textes herausstellt, zu einem weit überhöhten Preis der Universität abgekauft hat, sucht in den Präparaten, Skeletten, Schädeln und Totenmasken die Spuren des Lebens der Toten. Dreihundert Innenohren von Menschen und Tieren hat er aus Schädeln heraus seziert und präpariert, über die Gehörgänge will er erforschen, wie sich Sätze in seinem Kopf verfangen haben, denn er selbst ist noch immer gefangen von Sätzen seiner Mutter: "Nein du bleibst hier, bei mir, du gehst nicht nach draußen, es ist noch nicht lange genug kalt, das Eis ist noch nicht fest. Es ist zu gefährlich."

Der letzte Winter

Aus seinem Museum ging er immer nur nach draußen, um schnell beim Metzger eine Kleinigkeit zu essen. Nur jetzt muss er hinaus, und zwar ins Krankenhaus, weil er die Schmerzen in seinem Kopf nicht mehr aushält. Und der Arzt verkündet ihm, was er schon längst gewusst hat: "Das hier scheint Ihr letzter Winter zu sein." Er hat nur noch eine Frage: "Und der Frühling?" Der Arzt wiegt den Kopf und meint: "Vielleicht." Er entlässt ihn nach Hause; nur wegen der Schmerzmittel muss er wiederkommen.

Zu Hause geht der Mann wieder durch sein Museum und notiert: "Ich schaute aus dem Fenster. Erinnerungen kamen, lange nicht mehr Gedachtes. Ich ließ alles herein." Er fühlt seinen Körper, wie er ihn als Kind gefühlt hat, und will, dass etwas bleibt von diesem Körper. Und so beginnt er, Abdrücke von sich selbst zu machen - jeden Tag von einem anderen Teil seines Körpers. Doch zunehmend wird ihm die Vergeblichkeit seines Unternehmens bewusst, er begreift, "dass ich trotzdem sterben würde, ohne dass jemand etwas von mir wüsste. Ich schüttelte den Kopf über mich, es schmerzte: Als wäre das Zurücklassen einer Spur so leicht." So überlässt er sich seinen Körper-Erinnerungen, denkt an die Hände, die er mit seiner Hand gehalten hat, und konstatiert: "Viele waren es nicht."

Hoffnungsfigur Untendruntenwohnerin

Es bedeutet das Todesurteil für literarische Prosa, wenn man sie einfach nacherzählen kann. Bei Saskia Hennig von Langes Debütband "Alles, was draußen ist", ist das mitnichten der Fall. Das insistierende Umkreisen von eigenen Erinnerungen und von geradezu intimen Blicken auf die Präparate tierischer und menschlicher Missbildungen oder vom Betrachten der Totenmaske Robespierres - all das wird erst durch die glasklaren, schmucklos-präzisen Sätze dieses erstaunlichen Prosadebüts konstituiert.

Als einzige Bezugsperson gespenstert immer wieder die "Untendruntenwohnerin" durch die Aufzeichnungen des Mannes, doch während sie auf der ersten Seite noch eine reale Person ist, die er bei der Rückkehr von seinen Mittagessen trifft, wird sie im weiteren Verlauf der Novelle - ja, das Buch trägt tatsächlich die Gattungsbezeichnung "Eine Novelle" - immer mehr zu einer imaginären, von ihm herbei imaginierten Hoffnungsfigur. Er weiß, dass er hier heraus muss - heraus aus dem Zimmer, aus dem Museum, aus der Stadt. Nur mit der Untendruntenwohnerin kann er sich das vorstellen.

Hand in Hand

Zwei Szenen treten mit zunehmender Klarheit aus dem Erinnerungsstrom des Mannes hervor: Zum einen, wie er zum letzten Mal an der Hand von jemandem gegangen ist - an der Hand einer Frau, die er seine kleine Lehrerin nennt und die ihm damals sagte, dass sie sein Kind, das sie in ihrem Bauch trägt, nicht haben will. Die zweite unabweisbare Erinnerung betrifft den Emeritus, den alten Professor, der noch im Krieg geforscht hatte und sich kurz vor seinem Tod noch einmal seine Präparate ansehen wollte. Und dann sah er das Glas mit den siamesischen Zwillingen, auf deren Stirn er, als sie noch lebten, ein Zeichen tätowiert hatte.

Als der Professor die Zwillinge sah, fiel er mit einem ganzen Gewicht auf die Vitrine und überzog sie mit der Spur seines Speichels, als er sterbend zu Boden stürzte. Wenn der Mann, der Ich-Erzähler, an diese Szene denkt, erscheint ihm das Präparieren und Sezieren in einem anderen Licht, er begreift: "Ich erkannte mich also in des Emeritus Tat, das war die ganze Sache, ich erkannte mich in einer fremden Tat."

Auch das ist eine der Stärken dieses konsistenten Prosa-Werkes von Saskia Hennig von Lange, dass es den anatomischen Blick thematisiert, die Codes der Totenmasken reflektiert, dass es viel Theorie über Bild und Körper atmet, ohne auch nur im Entferntesten ins Theoretisieren abzugleiten. Aber die Arbeit am Dissertationsprojekt über das Verhältnis von Bild, Rahmen und Körper in der spätmittelalterlichen Kunst hat die Autorin offensichtlich inspiriert. Und immer geht es dabei um Selbsterkenntnis im Angesicht von Sterblichkeit und Tod oder, wie der Mann in Angesicht der Toten und den eigenen Tod vor Augen formuliert: "Denn das bin ich ja auch, diese knöcherne Reihe, die hier vor mir in der Vitrine liegt, das bin ich als Mensch, und darin kann ich mich erkennen."

Thomas-Bernhard-Figur

Der Mann trägt in seinem Scheitern, ohne epigonal zu sein, gewisse Züge einer Thomas-Bernhard-Figur: Er hat sich eine große Studie vorgenommen, ist aber nie über die Einleitung hinausgekommen. Weil er erkannte, dass seine Ordnungsvorstellungen ins Leere laufen. Er notiert: "Und wenn ich zwei Dinge nebeneinander lege, dann sind das noch immer zwei Dinge, und da findet sich nichts, was sie vergleichbar macht."

Einzig und unvergleichbar möchte er selbst sein und als solcher überdauern in den penibel angefertigten und beschrifteten Abdrücken seiner selbst, die, wie er imaginiert, die Untendruntenwohnerin finden wird, wenn sie ihm die Totenmaske abnehmen wird. Für sie sind auch die Aufzeichnungen gedacht. "Das alles wird sie lesen", lautet einer der letzten Sätze. Aber nicht alles wird sich ihr mitteilen - es bleibt ein Geheimnis."

Was bleibt von einem Menschen? Welche Spur kann er über seinen Tod hinaus hinterlassen? Saskia Hennig von Langes Prosadebüt "Alles, was draußen ist" stellt diese uralten und jeden Menschen bedrängenden Fragen auf unerwartete und überzeugende Weise neu. Darum wiegt dieser nur 116 Seiten starke Band mehr als so mancher dicke Roman. Seine Sätze ziehen einen von der ersten Seite bis auf die letzte in Bann.

Service

Saskia Hennig von Lange, "Alles, was draußen ist. Eine Novelle", Jung und Jung Verlag

Jung und Jung - Alles, was draußen ist