Alles wie damals?

Libyens Hauptstadt nach der Revolution

Ja, sich ein Hotel im Stadtteil Dhahra zu nehmen, dagegen spreche eigentlich gar nichts, dort sei es die meiste Zeit über ruhig, Probleme wie Straßenkämpfe oder Schießereien seien da selten.

Tatsächlich knallt und kracht es dann gleich bis Mitternacht ohne Pause rund ums Hotel. Aber es ist nicht der scharfe Knall von Gewehrsalven, sondern der dumpfere von Krachern und Feuerwerken: Die jungen Tripolitaner/innen werden die ganze Woche über lautstark feiern, mit Vorliebe nachts - den Geburtstag des Propheten Mohammed.

Kurz vor fünf Uhr früh beginnen dann die Hähne zu krähen. Das Hotel liegt mitten in der Stadt, umgeben von Wohnhäusern, einzelnen Bürobauten; ein paar Straßen weiter etliche Botschaften, doch dazwischen immer auch die alten kleinen Häuser der Stadtbewohner/innen mit ihren Gärten und Innenhöfen, aus denen die Hähne zu dieser frühen Stunde lautstark behaupten, sie seien jetzt die Wichtigsten. Das hält nicht lange an, denn bald übernehmen die elektrisch verstärkten Muezzine das akustische Kommando über die Stadt. Wenig später aber wird klar, wer tatsächlich die urbane Klangherrschaft innehat: der motorisierte Verkehr. Es gibt keinen anderen. Auch keine Radfahrer, sie wären chancenlos.

Gut, es gibt natürlich Fußgänger/innen. Sie wandeln hier unter Palmen. Oder unter den kleineren Bäumen der wie mit der Nagelschere in Form geschnittenen Sorte Ficus, seltener Tamarisken. Aber man hebe nicht zu lange den Blick zu den Blättern, die Gehsteige mit ihren Schäden und Löchern sind feine Stolperfallen. Es sei denn, sie sind mit Autos zugeparkt und man muss auf die Fahrbahn ausweichen. Es ist alles wie damals. Nichts sei anders, sagt mein Übersetzer Jihad, und ist ein wenig enttäuscht.

Frau im Interview mit Michael Schrott

Michael Schrott interviewt eine Frau, die sich als Mitglied einer NGO für #Frauenrechte einsetzt.

(c) Schrott, ORF

Neue Symbole

Ich war im November 2010 zum ersten Mal in dieser Stadt, wenige Monate vor dem Ausbruch der Revolution. Jetzt, in der sonnigen letzten Jännerwoche 2013, scheint sich wenig verändert zu haben. Die Symbole sind neu. Statt der grünen Fahne des Gaddafi-Regimes flattern überall die rot-schwarz-grünen Flaggen des neuen Libyen. Auf großen Stellwänden ersetzen die Fotos sogenannter Märtyrer - Männer, die für die Rebellion ihr Leben ließen - die ewig gleichen Gaddafi-Bilder von früher. Gaddafi ist höchstens noch als Fratze in Karikaturen oder auf Umschlägen von Büchern zu sehen, die seine Schreckensherrschaft beschreiben.

Und dann sieht man im Stadtbild nur ganz wenige, "sauber" herausgebombte Gebäude: in Trümmern das Haus der Geheimpolizei in der Aljamahiria-Straße. Das gleich daneben situierte Krankenhaus ist unversehrt. Gaddafis Hauptquartier, am Weg vom Flughafen in die Stadt gelegen, ist nicht bloß von NATO-Treffern plattgemacht, was stehen blieb, haben danach die Bagger umgestoßen. So liegen die einst hellgrün gefärbelten Betontrümmer als Symbol des Sieges in der sonst unversehrten Stadt.

Gegenüber waren auf den fensterlosen Seitenflächen großer Wohnblocks monumentale Bilder des geliebten Führers affichiert, eines davon zusammen mit seinem Freund Berlusconi. Die sind natürlich jetzt weg, aber mit welcher Wut sie vor dem Abräumen beschossen wurden, zeigen unzählige Einschusslöcher in diesen - ja - Feuerwänden.

Praktisch inexistente Polizei

Doch, Feuer aus automatischen Waffen gibt es weiterhin, alle paar Wochen in irgendeinem Stadtteil. Manchmal eine Entführung zwecks Lösegeld-Erpressung. Dann und wann tödliche Geplänkel zwischen mehr oder weniger selbsternannten Milizen. Anderswo wären das vielleicht nur Raufereien oder Prügeleien zwischen Nachbar/innen, erklärt mir der österreichische Handelsdelegierte in Tripolis, David Bachmann, aber seit der Revolution ist die Bevölkerung derart bewaffnet wie sonst vielleicht nur noch in den USA.

Die Polizei schreitet nicht ein. Sie ist nahezu inexistent. "Und nun stellen Sie sich das einmal vor", sagt mir tags darauf der Chefredakteur der englischsprachigen Online-Tageszeitung "Libya Herald", Michel Cousins, "stellen Sie sich vor, man würde von heute auf morgen die gesamte Polizei aus New York abziehen - wie es dort zuginge!" Gemessen an der Unzahl an Waffen und der Absenz der Ordnungskräfte sei das Ausmaß von Gewalt und Kriminalität hier in Tripolis, verglichen mit dem vorstellbaren New-York-Szenario, verschwindend gering.

Die Ursache dafür ortet der Chefredakteur in der Disziplin seiner "Landsleute" und in ihrem unbedingten Wollen, dass die Revolution zu einem guten Ende führe, zu einer wirklichen Demokratie. Das sei hier nämlich keine halbherzige Revolution gewesen wie die in Ägypten, sondern eine richtige, komplette, vergleichbar mit der Französischen.

Ich schreibe "Landsleute" in Anführungszeichen, weil Cousins von der Herkunft Schotte ist. Aufgewachsen in den 1950er bis 1970er Jahren in Tripolis, dann, wie alle Ausländer/innen, von Gaddafi des Landes verwiesen. Ende 2011 kam er zurück und gründete mit eigenem Geld den "Herald", eines von mittlerweile vielen liberalen Medien. Cousins ist heute vielleicht noch einen Deut patriotischer und optimistischer als seine "Landsleute".

Selbstorganisation ist gefragt

Die organisieren mittlerweile ihren Alltag tatsächlich so souverän, dass auf den ersten Blick keine Veränderungen gegenüber dem urbanen Leben vor zwei Jahren bemerkbar sind. Geschäfte und Märkte bieten sogar mehr Waren an als vor der Revolution, die Modeläden präsentieren nach wie vor die vielfach gerüschten ärmelfreien Damen-Abendroben mit Riesen-Dekolletés (die tragen die Frauen nur, wenn sie unter sich sind), durch die Luft wehen Staub und Abgase, Schulen und Krankenhäuser sind so schlecht wie eh und je, die Gaststätten sind voll und vor den Cafés serviert man Illy-Espresso.

Die Autofahrer/innen organisieren sich den zäh fließenden Verkehr erstaunlich geschickt und mit hoher Konzentration auch ohne Polizisten (wo sind die eigentlich, werden sie gerade alle umgeschult?). Verkehrsampeln, die es erst seit vier Jahren gibt - und das nur spärlich - haben oft bloß dekorativen Charakter. Circa ein Viertel der Autos hat überhaupt keine Nummernschilder. Die anderen tragen entweder schon neue Tafeln, auf denen neben der Nummer nur noch "Libyen" steht, oder die alten, mit der Inschrift der "Sozialistischen Volks-Dschamhirija". Diesen Schriftzug haben viele übermalt, übersprayt oder überklebt.

Derzeit keine Stadtplanung

Natürlich sei es ein großes Problem, dass es überhaupt keine öffentlichen Verkehrsmittel gebe, gesteht mir der Vorsitzende des Stadtrates in seinem Büro auf der ehemaligen Piazza Cattedrale, dem rundum von italienischen Kolonialbauten aus den 1930er Jahren umgebenen heutigen Algerien-Platz. Dr. Sadat El-Badri ist ein ernsthafter Herr mit makellosem Englisch, der die meiste Zeit der Gaddafi-Ära im Ausland verbracht hat. Er setzt jetzt Prioritäten: Zuerst müsse für umfassende Sicherheit gesorgt werden, dann, und das hänge mit dem ersten Punkt eng zusammen, gehe es um soziale Stabilität. Erst an dritter Stelle werde man sich um die engeren kommunalen Probleme kümmern.

Nein, derzeit gebe es nichts, was man Stadtplanung nennen könne, sagt El-Badri, kein Masterplan, nichts. Alle unter Gaddafi begonnenen oder ersonnenen oder ersponnenen Projekte stünden still. Mit dieser Ehrlichkeit unterscheidet er sich wohltuend von dem Stadtplaner, den man mir vor gut zwei Jahren vorgesetzt hatte: "Da draußen ist der Hauptbahnhof", hatte Herr Elsherif aus seinem Bürofenster gedeutet, auf das leere, sandige Brachland. In seiner Parallelwelt hatte Tripolis bereits das perfekte Nahverkehrssystem: "Busse, die Eisenbahn, die Tripoli-Tram. Und wir haben eine U-Bahn, sie ist schon entworfen." Nichts davon existiert.

Dabei hatte es mit einem schicken grün-weißen Eisenbahnzug der italienischen Firma Ansaldo so schön begonnen. Den hatte Berlusconi seinem Freund Gaddafi zum 40. Jahrestag von dessen Revolution geschenkt, 2009. Blöd, dass es noch kein Eisenbahngleis in Libyen gab. Also baute Ansaldo auch noch 1.000 Meter Schienenstrecke und stellte den Zug darauf. Wieder blöd, dass Libyen gerade das zurzeit größte Eisenbahnprojekt der Welt ausgeschrieben hatte, eine Strecke von der tunesischen bis zur ägyptischen Grenze; russische und chinesische Unternehmen arbeiteten bereits an der Trasse, der italienische Zug erfüllte nicht die Ausschreibungskriterien. Er hatte die falsche Spurbreite. Doch Gaddafi wollte unbedingt die Züge seines italienischen Freundes. Die Revolution von 2011 erlöste die Verantwortlichen der libyschen Eisenbahn aus ihrem Dilemma.

Mohammeds Geburtstag in Tripolis. Der Verkehr ruht. Die Palmen überragen die italienischen Kolonialbauten. Zehnstöckige Betonruinen wie das geplante Fünfsterne-Hotel mit Meerblick überragen die Palmen. Irgendwann wird weitergebaut. Irgendwann geht es aufwärts. Und wenn nicht, will Übersetzer Jihad nächstes Jahr nach Amerika auswandern.

Service

Libya Herald