Roman von Alix Ohlin

In einer anderen Haut

Langlaufen ist eine der Lieblings-Freizeitbeschäftigungen der Therapeutin Grace. Also geht sie an diesem schönen Wintertag des Jahres 1996 wieder einmal in die Berge rund um Montreal. Aber dieses Mal ist alles anders.

Plötzlich findet Grace im Schnee einen Mann, der gerade versucht hat, sich aufzuhängen. Grace kümmert sich hingebungsvoll um ihn, begleitet ihn nach Hause und nach und nach verlieben sich die beiden ineinander.

Annies Wunden

Schnitt ins Jahr 2002. Da hat die aufstrebende Schauspielerin Annie gerade ein Appartement in New York City bezogen. Die Stadt leidet noch immer an den Wunden, die der Terroranschlag vom 11. September hinterlassen hat, aber Annie kümmert sich viel mehr um ihre eigenen Wunden. Um die seelischen, wie auch die körperlichen, denn Annie hat sich als Teenager immer wieder absichtlich geschnitten. Und jetzt ist ihr Bauch von den Narben verunstaltet.

Eines Tages kampiert ein Obdachloser im Flur von Annies Haus. Die Nachbarn beschweren sich, aber niemand traut sich, den Obdachlosen anzusprechen. Bis Annie sich ein Herz nimmt, und dann überrascht feststellt, mit keinem alten Alkoholiker zu reden, sondern mit einem weiblichen Teenager. Vor ihren Eltern sei sie geflohen, erklärt die junge Frau, und nun habe sie keine Unterkunft. Und so bietet Annie ihr an, bei ihr einzuziehen.

Nochmals Schnitt. Jetzt ins Jahr 2006 in die Arktis. Dort versucht Mitch, die triste soziale Lage der Inuit zu verbessern, hat die Gegend doch eine der höchsten Selbstmordraten weltweit. Mitch verlässt seine Freundin und deren autistischen Sohn, um als Therapeut bei den Inuit zu arbeiten. Aber lange wird es nicht dauern und er selbst wird von schweren Depressionen geplagt werden, denn ein Bub, der seine Mutter und seine Schwester bei einem Unwetter verloren hat und dem Mitch zu helfen versucht, stürzt sich verzweifelt vor einen LKW.

Vorbehaltlos helfen

Die Ausgangslage von Alix Ohlins Roman ist durchaus interessant. Wie verändert sich das Leben von Leuten, die bereit sind, anderen vorbehaltlos zu helfen? Denn auch Tug, der Mann, der sich erhängen wollte und der von Grace gefunden wurde, war ursprünglich ausgezogen, um anderen zu helfen, denn das ist eine weitere Station in diesem Roman: Ruanda 1994. Tug war vor Ort und musste erleben, wie Menschen bestialisch mit Macheten abgeschlachtet wurden. Es sind diese alptraumhaften Bilder, die Tug verfolgen und ihm schließlich jeglichen Lebensmut nehmen.

Die Therapeutin Grace bildet das Zentrum dieses Romans, denn alle anderen Figuren stehen mit ihr in Beziehung. Annie, die Schauspielerin, die in New York eine Obdachlose aufnimmt, dann auch noch deren Freund, und dann erfährt, dass ihre neue Wohnungsgenossin schwanger ist; diese Annie war früher einmal Patientin von Grace. Und Mitch, der in der Arktis den Inuit helfen will, ist der Ex-Mann von Grace. Alles hängt in diesem Roman also mit allem zusammen. Und jeder will in diesem Roman unter allen Umständen jemand anderem helfen. Meist gegen dessen Willen.

Kitschiges Ende

So weit, so gut, so an den Haaren herbeigezogen. Obwohl die fehlende Plausibilität nicht die größte Schwäche des Textes ist. Viel störender ist, dass allen Protagonisten das Gleiche widerfährt und dass alle über dieselben Charaktereigenschaften verfügen. Frauen und Männer wollen alle helfen; alle Männer sind depressiv und wollen sich umbringen, alle Frauen sind ungewollt schwanger und überlegen, ob sie das Kind abtreiben sollen oder nicht.

Überhaupt watet Ohlin tief in den Geschlechterstereotypen. Die Männer sind schweigsam und brechen dann plötzlich auf, um sich - wie die Ritter in der mittelalterlichen Aventure - in der Ferne zu beweisen. Aber gleichzeitig - schließlich befinden wir uns im 21. Jahrhundert - müssen die Männer natürlich auch eine weiche Seite haben. Und so lieben alle Männer in diesem Text die Kinder der Frauen, mit der sie gerade zufällig zusammen sind. Selbst wenn der Bub autistisch ist, macht nichts, er wird geliebt, als wäre es das eigene Kind.

Und als Mitch - Achtung, jetzt wird es wirklich kompliziert - als Mitch also am Ende des Buches wieder seine Ex-Frau Grace trifft, sich wieder in sie verliebt und deren Tochter Sarah kennen lernt, die natürlich nicht seine eigene Tochter ist, liebt auch er sie von ganzem Herzen. Und dann, am Weihnachtsabend, sind Mitch und Grace wieder ein Paar. Und der Leser fragt sich, warum dermaßen viele Orte und dermaßen viele Personen beschrieben werden mussten, um zu diesem kitschigen, vorhersehbaren Ende zu kommen - vor allem, weil die Beschreibungen der Orte und der Situationen nur selten überzeugend sind.

Gute Unterhaltung

Wenn Ohlin zum Beispiel über die Gräuel in Ruanda berichtet, sieht man als Leser die Zeitungsberichte, aus denen sie abschreibt, förmlich vor sich. Und als Annie nach Los Angeles geht, um beim Film ihr Glück zu versuchen, wird jedes einzelne mit Hollywood assoziierte Stereotyp von Ohlin Schritt für Schritt durchdekliniert.

Ist "In einer anderen Haut" also nun durch und durch misslungen, wie etwa William Giraldi, Kritiker der "New York Times" in seinem bitterbösen Verriss meint? Nein, denn bei allen sprachlichen Schwächen liest sich Ohlins Text doch sehr flüssig. Und so ist es - wenn schon kein besonders gutes Buch - zumindest eines, das man bis zum Schluss lesen mag. Und das ist ja auch nicht nichts.

Service

Alix Ohlin, "In einer anderen Haut", aus dem Englischen übersetzt von Sky Nonhoff, C. H. Beck

C. H. Beck