Essay von Alexandre Lacroix
Kleiner Versuch über das Küssen
Der französische Wirtschaftswissenschafter und Philosoph Alexandre Lacroix erläutert in seinem Buch Kulturgeschichte und Praktiken des Kusses. Ein wenig Wissenschaft ins Liebesleben bringen, um dieses aufzuwerten, ist das erklärte Ziel von Lacroix' Essay. So sinniert er über den Kuss als A und O der amourösen Erfahrung, und über den Kuss als Komma: "Wenn der sexuelle Akt ein Punkt ist, ist der Kuss ein Komma. Eine Atempause im Satz."
8. April 2017, 21:58
Anstoß für das Buch hat übrigens Lacroix 'Frau gegeben: Sie hat sich bei ihrem Gatten beklagt, dass er sie viel zu selten einfach in den Arm nehme und küsse.
Erste Küsse
Ein Zwickerbusserl, ein Gutenachtkuss, Begrüßungsschmatzer links und rechts auf die Wange, einen Frosch küssen, schmusen, knutschen, Eskimoküsse, Zungenküsse, der Hollywood-Filmkuss, ein Abschiedskuss, ein Busserl oder der erste Kuss. Über verschiedenste Arten des Kusses, den Kuss als konturlosen Moment und erste jugendliche Kuss-Versuche, bei denen vor allem die Furcht vor den technischen Aspekten überwiegt, sinniert Lacroix sehr amüsant in seinem Essay "Kleiner Versuch über das Küssen."
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Jugendliche neigen dazu, der Technik der Mischtrommel den Vorzug zu geben und ihre Zungen energisch umeinander zu winden. Die Gewissenhafteren vollziehen diese Bewegung immer auf dieselbe Weise, die Einfallsreichen wechseln von Zeit zu Zeit die Richtung des Kreisens. Warum sagt den Debütanten gerade diese Herangehensweise an das Küssen zu? Vielleicht, weil sie eine demonstrative Seite hat.
Sehr erheiternd beschreibt Lacroix neben seinen ersten Kusserfahrungen auch verschiedene gründlichere, verspieltere und steifere Kusstechniken. Und jede dieser Techniken, so Lacroix, kann selbstverständlich von Knabbern oder sogar von Beißen begleitet sein. Der Kuss also als neutralisierter animalischer Instinkt zwischen Vampirbiss und Knutschfleck?
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Der Kuss hat per definitionem nur Sinn als gezügelter Biss.
Küsse sind nicht überall gleich
Tierische Schnabelspiele von balzenden Vögeln oder das Mund-zu-Mund-Füttern bei Zwergschimpansen - ob der historische Ursprung des Kusses auf Imitation beruht, wagt Lacroix zu bezweifeln. Mangels Quellen lasse sich zur Historie des "Liebeskusses" aber nur wenig Eindeutiges sagen, außer, dass indogermanische und semitische Völker ihn seit Langem kennen. Und: der Liebeskuss sei nichts Universelles, vor der Globalisierung wussten zahlreiche Kulturen nichts vom Küssen, wie wir es in europäischen Breiten kennen und praktizieren.
Im 19. Jahrhundert berichteten englische Forscher beispielsweise erstaunt über den in Lappland oder China üblichen Riechkuss, bei dem die Nase an die Wange der geliebten Person gelegt und mit geschlossenen Augen dabei lange ein- und ausgeatmet wird oder über das Wangen-aneinanderreiben, wie es die Bewohner des Feuerlands praktiziert haben.
Lacroix unternimmt auch einen literarischen Ausflug in die Zeit der Aufklärung: Voltaire erhebt Anklage gegen den fortschrittshemmenden und mit Verrat verbundenen Kuss, Jean Jaques-Rousseau und Marquis de Sade hingegen plädieren fürs Küssen und berufen sich auf die Natur des Kusses, wenngleich sich auch die Motive unterscheiden: Rousseau schwärmt für den romantischen und de Sade für den pornografischen Kuss.
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Der Graben zwischen romantischem Kuss und Kuss des Libertins, den die Literatur des 18. Jahrhunderts aufgerissen hat, ist noch immer nicht zugeschüttet worden. Wie soll man zwischen den beiden Tendenzen wählen? Als romantischer Kuss ist der Kuss ein Selbstzweck; er ist pazifistisch, bukolisch, rein, zuvorkommend. Als Kuss des Libertins ist der Kuss eine Zutat zur Lust: organisch, roh, umso besser, wenn der Mund sich auflehnt, sich beklagt oder Obszönitäten ausstößt.
Die Stadt der Liebe
Eine Station, die Lacroix in seinem Essay nicht auslässt, ist die Stadt der Liebe: Ein Schwarzweiß-Foto zeigt ein junges Paar, das sich innig vor dem Pariser Rathaus küsst. Auch ohne französische Akkordeon-Melodie im Hintergrund trieft das Bild aus dem 1950er Jahren des Fotographen Robert Doisneau vor Romantik. Der Kuss als Gipfel des Gewagten.
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Sich auf offener Straße zu küssen, war eine ganz leichte Regelübertretung - eine Laune in Schwarzweiß, beliebt von den Anfängen der Varietétheater bis in die Nachkriegszeit. Man demonstrierte damit Lebenslust und Unabhängigkeit, die Lippen tanzten Foxtrott.
Alexandre Lacroix plaudert und analysiert sehr heiter, ohne persönliche Anekdoten auszulassen: "Tatsächlich habe ich niemals derart bewusst einen Kuss gegeben", erzählt Lacroix von einem Moment rund um einen unvergesslichen Kuss. Einen Kuss, der das erste schüchterne Beziehungsgespräch des Paares beim romantischen Abendessen zur Frage nach einer gemeinsamen Zukunft besiegelt.
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Und dieser Kuss hat einen besonderen Geschmack nicht nur auf gastronomischer Ebene. Es ist ein "JA". Ein Einwilligen in alles, in die Aussicht auf Zusammenleben, auf Schwangerschaft, Heirat vielleicht, auf all jene monströsen Dinge, mit denen die Heterosexualität beschwert ist. Es ist ein Berg von einem Kuss, den wir uns geben, und wir wissen das.
Von Frauen bevorzugt
Lacroix hält außerdem fest, der Kuss sei etwas Feminines: es seien die Frauen, die verrückt nach ihm sind, die noch einen und noch einen und noch einen haben wollen. Und es sind die kleinen Kuss-Gesten, die Lacroix beschäftigen, beispielsweise bei der allmorgendlichen Routine bei Paaren: dem Guten-Morgen-Kuss spricht der Franzose seine Banalität nämlich ab, besonders an jenen Morgen, an denen Paare nicht eng umschlungen und sanft von Sonnenstrahlen geweckt werden.
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Ich denke an jene Morgen, an denen man sich mechanisch küsst, bevor man mit wankenden Schritten aufs Bad zusteuert. Da kann es gut sein, dass Sie einen äußerst üblen Atem haben, beschwert vom Destillat des Weins vom Vorabend, und dass der gestern noch so appetitliche Mund der Liebsten einen Hauch von Camembert und alter Wäsche verströmt. Sie werden ein ausdauerndes Wohlwollen benötigen, um nichts von Ihrer Lustlosigkeit, wenn nicht gar aufkommendem Ekel, erahnen zu lassen und diesen Kuss ebenso wie die anderen geben. Wenn es Beweise für die Liebe braucht - das ist einer.
Der kleine "Versuch über das Küssen" ist eine Hommage an den Kuss und erzählt keck, pointiert und mit einem Schmunzeln auf den Lippen die Kulturgeschichte des Kusses und gibt gleichzeitig praxisorientierte Ratschläge. Nichts sei destruktiver für eine Beziehung als das Vergessen des Kusses oder wenn der Kuss auf sein Minimum, auf eine nutzerorientierte Begrüßungskuss-Floskel reduziert werde. Denn, so Lacroix: es gebe kein besseres Barometer für den Zustand eines Paares als den Kuss.
Service
Alexandre Lacroix, "Kleiner Versuch über das Küssen", aus dem Französischen übersetzt von Till Bardoux, Matthes & Seitz
Matthes & Seitz