Essay von Alexandre Lacroix

Kleiner Versuch über das Küssen

Der französische Wirtschaftswissenschafter und Philosoph Alexandre Lacroix erläutert in seinem Buch Kulturgeschichte und Praktiken des Kusses. Ein wenig Wissenschaft ins Liebesleben bringen, um dieses aufzuwerten, ist das erklärte Ziel von Lacroix' Essay. So sinniert er über den Kuss als A und O der amourösen Erfahrung, und über den Kuss als Komma: "Wenn der sexuelle Akt ein Punkt ist, ist der Kuss ein Komma. Eine Atempause im Satz."

Anstoß für das Buch hat übrigens Lacroix 'Frau gegeben: Sie hat sich bei ihrem Gatten beklagt, dass er sie viel zu selten einfach in den Arm nehme und küsse.

Erste Küsse

Ein Zwickerbusserl, ein Gutenachtkuss, Begrüßungsschmatzer links und rechts auf die Wange, einen Frosch küssen, schmusen, knutschen, Eskimoküsse, Zungenküsse, der Hollywood-Filmkuss, ein Abschiedskuss, ein Busserl oder der erste Kuss. Über verschiedenste Arten des Kusses, den Kuss als konturlosen Moment und erste jugendliche Kuss-Versuche, bei denen vor allem die Furcht vor den technischen Aspekten überwiegt, sinniert Lacroix sehr amüsant in seinem Essay "Kleiner Versuch über das Küssen."

Sehr erheiternd beschreibt Lacroix neben seinen ersten Kusserfahrungen auch verschiedene gründlichere, verspieltere und steifere Kusstechniken. Und jede dieser Techniken, so Lacroix, kann selbstverständlich von Knabbern oder sogar von Beißen begleitet sein. Der Kuss also als neutralisierter animalischer Instinkt zwischen Vampirbiss und Knutschfleck?

Küsse sind nicht überall gleich

Tierische Schnabelspiele von balzenden Vögeln oder das Mund-zu-Mund-Füttern bei Zwergschimpansen - ob der historische Ursprung des Kusses auf Imitation beruht, wagt Lacroix zu bezweifeln. Mangels Quellen lasse sich zur Historie des "Liebeskusses" aber nur wenig Eindeutiges sagen, außer, dass indogermanische und semitische Völker ihn seit Langem kennen. Und: der Liebeskuss sei nichts Universelles, vor der Globalisierung wussten zahlreiche Kulturen nichts vom Küssen, wie wir es in europäischen Breiten kennen und praktizieren.

Im 19. Jahrhundert berichteten englische Forscher beispielsweise erstaunt über den in Lappland oder China üblichen Riechkuss, bei dem die Nase an die Wange der geliebten Person gelegt und mit geschlossenen Augen dabei lange ein- und ausgeatmet wird oder über das Wangen-aneinanderreiben, wie es die Bewohner des Feuerlands praktiziert haben.

Lacroix unternimmt auch einen literarischen Ausflug in die Zeit der Aufklärung: Voltaire erhebt Anklage gegen den fortschrittshemmenden und mit Verrat verbundenen Kuss, Jean Jaques-Rousseau und Marquis de Sade hingegen plädieren fürs Küssen und berufen sich auf die Natur des Kusses, wenngleich sich auch die Motive unterscheiden: Rousseau schwärmt für den romantischen und de Sade für den pornografischen Kuss.

Die Stadt der Liebe

Eine Station, die Lacroix in seinem Essay nicht auslässt, ist die Stadt der Liebe: Ein Schwarzweiß-Foto zeigt ein junges Paar, das sich innig vor dem Pariser Rathaus küsst. Auch ohne französische Akkordeon-Melodie im Hintergrund trieft das Bild aus dem 1950er Jahren des Fotographen Robert Doisneau vor Romantik. Der Kuss als Gipfel des Gewagten.

Alexandre Lacroix plaudert und analysiert sehr heiter, ohne persönliche Anekdoten auszulassen: "Tatsächlich habe ich niemals derart bewusst einen Kuss gegeben", erzählt Lacroix von einem Moment rund um einen unvergesslichen Kuss. Einen Kuss, der das erste schüchterne Beziehungsgespräch des Paares beim romantischen Abendessen zur Frage nach einer gemeinsamen Zukunft besiegelt.

Von Frauen bevorzugt

Lacroix hält außerdem fest, der Kuss sei etwas Feminines: es seien die Frauen, die verrückt nach ihm sind, die noch einen und noch einen und noch einen haben wollen. Und es sind die kleinen Kuss-Gesten, die Lacroix beschäftigen, beispielsweise bei der allmorgendlichen Routine bei Paaren: dem Guten-Morgen-Kuss spricht der Franzose seine Banalität nämlich ab, besonders an jenen Morgen, an denen Paare nicht eng umschlungen und sanft von Sonnenstrahlen geweckt werden.

Der kleine "Versuch über das Küssen" ist eine Hommage an den Kuss und erzählt keck, pointiert und mit einem Schmunzeln auf den Lippen die Kulturgeschichte des Kusses und gibt gleichzeitig praxisorientierte Ratschläge. Nichts sei destruktiver für eine Beziehung als das Vergessen des Kusses oder wenn der Kuss auf sein Minimum, auf eine nutzerorientierte Begrüßungskuss-Floskel reduziert werde. Denn, so Lacroix: es gebe kein besseres Barometer für den Zustand eines Paares als den Kuss.

Service

Alexandre Lacroix, "Kleiner Versuch über das Küssen", aus dem Französischen übersetzt von Till Bardoux, Matthes & Seitz

Matthes & Seitz