Hannes Stein schreibt Geschichte um

Der Komet

"I bin do ned deppat, i fohr wieder z'haus". Diese Worte sollte man sich merken. Der in München geborene Autor und Publizist Hannes Stein legt sie in seinem ersten Roman dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in den Mund.

Nach dem ersten missglückten Attentat entschließt sich der Habsburger umgehend zur Rückkehr nach Wien. Der Erste Weltkrieg findet nicht statt. Die Monarchie zerfällt nicht. Deutschland wird nicht zu Reparationszahlungen verpflichtet, und auch der Zweite Weltkrieg und der Holocaust bleiben aus. Amerika erlebt keinen Aufstieg zur alles dominierenden Großmacht, und auch von einem Kalten Krieg hat in dieser Welt nie jemand etwas gehört.

Wien als Zentrum der Welt

Wien, im Jahr 2000: Das ist der Punkt, an dem der Autor in sein alternatives Geschichtsszenario einsteigt. Eine Salonkultur wird vorgeführt, die nostalgische Gefühle weckt. Jüdische Intellektuelle beherrschen die Szenerie und versprühen ihren unnachahmlichen Witz. Hannes Stein indes, der in Salzburg aufgewachsen ist und heute in den USA lebt, gelingt die Nachahmung sehr gut. In seinem Buch etabliert er einen Tonfall, an dem man die lange ungebrochene Vergangenheit des Landes ablesen kann. Die besondere Pointe des Romans besteht nun aber darin, dass Wien hier durchaus nicht am Rand liegt. Bei Hannes Stein schaut man von Wien aus nicht dem Treiben der anderen zu, nein: Man befindet sich selbst im Zentrum der Welt.

In einer Vielzahl von Details spielt das Buch das Szenario durch: Nicht Hollywood, sondern die Sascha-Film mit ihren Studios am Rosenhügel bestimmt das Kino des globalen Dorfs: Mit Stars wie Romy Schneider und Christoph Waltz. Ein uringelber Saft, der so schmeckt, als hätte ihn eine verrückte Kräuterhexe in einem rostigen Bottich angerührt, ist das weltweit beliebteste Getränk. Auf der Flasche prangt ein Trachtenpärchen, das man überall kennt. Red Bull und Coca-Cola vermochten in dieser Almdudler-Welt erst gar nicht aufzukommen.

Es kommt der Komet

Während in Nordamerika ab und an einige zurückgebliebene Cowboys verrückt spielen, dominiert in Europa neben Österreich-Ungarn mit Deutschland ein zweites Kaiserreich. Geführt von den besten Ingeneuren, haben die Deutschen ihre ganze Kraft der friedlichen Entwicklung ihres Raketenprogramms gewidmet. Albert Einstein, der führende Mann, ist auf dem Mond unter einem Steinbrocken aus seiner Heimat begraben. Ein Mann aus Österreich, der Hofastronom des Kaisers mit dem schönen Namen Dudu Gottlieb, besucht die deutsche Mondkolonie. Es ist ein Routineflug in einem Raumgleiter, der zwanzig Passagieren Platz bietet. Die Entdeckung indes, die Gottlieb in dort montierten Weltraum-Observatorium macht, ist erschütternd: Ein Komet rast auf die Erde zu.

Unten in Wien vergnügt sich währenddessen seine Frau Barbara mit einem russischen Kunststudenten. Jener Alexej von Repin gibt dem Roman über weite Strecken die Erzählperspektive: Wie der reine Tor bewegt sich der junge Mann durch die feine Wiener Gesellschaft.

Satirischer Gesellschaftsroman

Was aber ist das für ein Buch, das der Autor geschrieben hat? Ein satirischer Gesellschaftsroman, der zeigt, wie die Welt wäre, wenn sich in ihr die besten aller möglichen europäischen Old-School-Welten durchgesetzt hätte?

In jenem Wien, das Hannes Stein schildert, treffen sich der katholische Kardinal und der jüdische Gemeindevorsteher, der ohne weiteres den Vornamen Adolf tragen kann, jeden Donnerstag zum Tarock in einem Caféhaus. Auf dem Zeitungstisch liegt neben der "Neuen Freien Presse" ganz selbstverständlich das "Prager Tagblatt" und der "Pester Lloyd".

Auch ein Psychoanalytiker namens Dr. Anton Wohlleben gehört der Runde an. Er berichtet von einem recht seltsamen Patienten: In den Alpträumen dieses Mannes taucht die reale Geschichte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Ungeheuerlichkeiten auf. In der Welt des Romans kann sich kein Mensch erklären, woher all diese Brutalitäten stammen.

Alt-österreichisch-ungarische Zauberwelt

In einem eigenen 30-seitigen Glossar erklärt Hannes Stein am Ende seines Buches die realen geschichtlichen Details, über die sich sein Möglichkeitssinn erhebt. Stefan Zweig beispielsweise bringt sich hier nicht im Exil um, sondern lebt bis 1963 friedlich auf dem Kapuzinerberg in Salzburg. Und Anne Frank bekommt 1999 den Nobelpreis für Literatur.

Wohin, so könnte man fragen, ist die ganze Bösartigkeit des Jahrhunderts gekommen? Hannes Stein lässt sie mit einem Taschenspielertrick verschwinden: Hitler ist hier ein bedeutungsloser Schildermaler und Stalin ein Eiferer ohne Wirkung.

Irgendwo fernab massakrieren zwar gerade irgendwelche Japaner irgendwelche Chinesen, das aber kümmert in Wien keinen Menschen. Die vielen einflussreichen Juden der Stadt bringen auch die Wahlerfolge einer neuen rechtsradikalen Partei nicht wirklich aus der Ruhe.

Es ist eine gute alt-österreichisch-ungarische Zauberwelt, die Hannes Stein in seinem klugen und witzigen Buch entwirft. Aus dem Engel der Geschichte, der der Katastrophe ansichtig verkehrt in die Zukunft geweht wird, ist hier ein Schutzengel für die Opfer des 20. Jahrhunderts geworden. Rein literarisch war es hoch an der Zeit, dass einmal ein solcher Engel geschaffen wurde. Fraglich nur, wozu dieses Buch dann noch den titelgebenden Kometen braucht. Indes sollte man sich auch von dieser Vision nicht erschrecken lassen. Allen, die ängstlich sind, sei gesagt: Es geht wahrscheinlich auch noch diese Sache glimpflich aus.

Service

Hannes Stein, "Der Komet", Galiani Verlag