Das kurze Leben der Fakten
Wenn man für ein angesehenes US-Magazin schreibt, dann wird der Text von einem Fact-Checker auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Dies kann mitunter mühsam sein. So mühsam, dass John D'Agata nun den Briefwechsel mit seinem Faktenprüfer Jim Fingal als Basis für ein Buch genommen hat: "Das kurze Leben der Fakten".
8. April 2017, 21:58
Die Arbeit der Fact-Checker
Der Begriff "Reportage" steht im Printjournalismus für einen dramaturgisch aufbereiteten Hintergrundbericht, der einen Sachverhalt anhand von konkreten Beispielen, Personen oder deren Schicksalen anschaulich macht. Eine gute Reportage ist also ein gut geschriebener Text, in dem die Daten, Fakten und Zahlen stimmen. Klingt gut und einfach, ist es aber im realen Leben zumeist nicht. Denn oft sind die Fakten nicht genau so, wie es der Autor gerne hätte. Das Dilemma, vor dem der Journalist dann steht: Was ist wichtiger - ein guter Text, oder die Fakten?
Und mit Letzteren nehmen es die amerikanischen Magazine sehr genau. Deshalb gibt es in fast allen Zeitschriften sogenannte Fact-Checker. Die tun nichts anderes, als die Fakten zu überprüfen. Die Fact-Checker sind bei den Autoren nicht sehr beliebt, denn für schöne Sätze haben sie meist nichts übrig; ihnen geht es nur um schnöde Tatsachen.
Wochenlanger Streit über den ersten Satz
John D'Agata ist in den USA dafür bekannt, ein guter Autor zu sein, einer, der für sich in Anspruch nimmt, keine Reportagen, sondern "Essays" zu schreiben, und es deshalb mit den Fakten - mit denen er in seinen Texten nur allzu gerne, allzu freizügig jongliert - nicht so genau nehmen zu müssen.
2003 bot D'Agata einen Text über den Selbstmord eines Jugendlichen in Las Vegas dem "Harper's Magazine" an. Die Zeitschrift lehnte den Text aufgrund "faktischer Ungenauigkeiten" ab. Daraufhin schickte D'Agata ihn an das damals neu gegründete Literaturmagazin "The Believer". D'Agatas Text wurde Jim Fingal zugewiesen, einem Neuling auf dem Gebiet des Fact-Checkings, der vielleicht gerade deswegen seine Aufgabe sehr, sehr ernst nahm.
Schon über den ersten Satz streiten die beiden wochenlang. Später dann will Fingal wissen, woher D'Agata ein bestimmtes Zitat habe. Eine Frau habe ihm das erzählt, sagt D'Agata. Ob er ihm Notizen des Interviews schicken könne, fragt Fingal. Er mache keine Notizen, antwortet D'Agata. Darauf Fingal:
Zitat
"Ehrlich gesagt befürchte ich, dass Ihre zwanglose Befragungsstrategie ein Problem sein wird, denn es heißt ja, dass wir nichts in der Hand haben, das das, was Sie geschrieben haben, auch nur im Entferntesten belegen könnten."
"Das könnte in der Tat ein Problem darstellen, aber bei allem Respekt, das ist Ihr Problem, Jim, nicht meines."
Belege für ein Gerücht gefordert
Schnell wird der Ton zwischen Autor und Fact-Checker gehässig. Fingal will eine Quelle für ein bestimmtes Gerücht. Ob er das ernst meine, erwidert D'Agata. Woher solle er denn einen Beleg für ein Gerücht nehmen. Dann geht es um D'Agatas Mutter. Im Text schreibt er, er war nach Las Vegas gegangen, um seine Mutter zu unterstützen. Was tut also der überpenible Fingal? Er will die Mutter anrufen, um zu fragen, ob der Sohn wirklich wegen ihr in die Stadt gekommen war. "Meine Mutter fädelte Perlen auf Schnüre, um sich etwas dazuzuverdienen", schreibt D'Agata. Daraufhin merkt Fingal an:
Zitat
Da er mir die Kontaktdaten seiner Mutter nicht geben will, kann ich das nicht bestätigen. Sie muss aber schon eine Art Künstlerin sein, um ihre Handarbeiten für Geld verkaufen zu können.
John D'Agatas Antwort:
Zitat
Jetzt seien Sie mal ganz vorsichtig, Sie Arschloch.
Anmerkungen länger als die Reportage
Bald schon sind Fingals Anmerkungen um vieles länger als der Text selbst. Einmal schreibt D'Agata über eine bestimmte Sternenkonstellation, die nichts Besonderes sei. Daraufhin führt Fingal seitenlang aus, wann es zu welcher Sternenkonstellation kommt, um dann zu resümieren, dass die von D'Agata beschriebene Konstellation tatsächlich häufig vorkomme.
Ein anderes Mal bezieht sich D'Agata auf die Sterbestatistik von Las Vegas. In der Stadt sei Selbstmord eine der häufigsten Todesursachen. Nur bei Herzkrankheiten, Schlaganfällen und einigen Arten von Krebs bestehe eine höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben. Über Seiten listet der Fact-Checker daraufhin auf, welche Krebsarten es gibt und wie viele Leute an jeder einzelnen Art sterben. Das könne man doch nicht unter "einige Arten von Krebs" subsummieren. D'Agatas lapidare Antwort:
Zitat
Ich glaube nicht wirklich, dass Leser empört wären, wenn sie herausfinden, dass ich supratentorielle primitive neuroektodermale Tumore und Medulloblastome im Kindesalter unter der Kategorie "einige Arten von Krebs" zusammengefasst habe. Verschonen Sie mich bitte für eine Weile mit dem Scheiß.
Wo hört die Freiheit des Journalisten auf?
So geht es Seiten um Seiten - die Anmerkungen des Fact-Checkers und D'Agatas Erwiderungen umfassen mehr als 140 eng beschriebene Seiten - und Jahre um Jahre. Denn erst im Jänner 2010, also fast sieben Jahre, nachdem D'Agata den Text der Redaktion gegeben hat, wird dieser veröffentlicht. Mit so gut wie keinen Änderungen. Die ganze Arbeit, die unendlichen Streitereien, sie haben so gut wie nichts bewirkt.
Deshalb ist es gut, dass der E-Mail-Wechsel zwischen Autor und Fact-Checker nun als Buch vorliegt. Werden hier doch wichtige Fragen des Journalismus' erörtert. Wie wichtig sind Fakten? Wo hört die Freiheit des Journalisten auf? Was ist der Unterschied zwischen Essay und Reportage? Zwischen Autor, Schriftsteller und Journalist? Was ist Wirklichkeit und was Interpretation? John D'Agata meint dazu:
Zitat
Zahlen und Statistiken können nur bis zu einem gewissen Grad deutlich machen, wie jemand ist oder worum es in einer Gemeinschaft geht. Ab einem gewissen Punkt müssen wir Schriftsteller in die Haut eines Menschen oder einer Gemeinschaft schlüpfen und versuchen, sie zu verkörpern. Das ist offenkundig eine unglaublich gewaltsame Prozedur, aber ich glaube, wenn wir als Schriftsteller nicht bereit sind, das zu tun, dann machen wir nicht wirklich unseren Job.
Service
John D'Agata & Jim Fingal, aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn, "Das kurze Leben der Fakten", Hanser Verlag
Hanser Verlag