Bibelkommentar zu Johannes 10, 27 - 30
Möchten Sie ein Schaf sein? Ich möchte das, ehrlich gesagt nicht: in der Menge den anderen Schafen nachtraben und mich am Hintern des Vorderschafs orientieren, denn etwas anderes sehe ich ja nicht.
3. Mai 2013, 13:26
Wie alle Bilder, in denen das Verhältnis der Gläubigen zu Jesus beschrieben wird, ist auch das Bild der Herde mehrdeutig und zwiespältig. Das gilt auch für das alte biblische Bild von der Herde und ihrem Hirten. Wie lässt es sich verstehen?
Klar ist eines: Jesus ist in diesem Text der Hirte. Er ist übrigens auch noch für eine andere Herde zuständig, die nicht aus diesem Stall ist, wie das 17. Kapitel im Johannesevangelium erzählt. Darin kommt die grundsätzliche Sorge Gottes für alle Menschen zum Ausdruck. Das Bild des Hirten steht in der biblischen Tradition für den König, den Herrscher, den Leiter. Es beschreibt eine spezielle Art, Verantwortung für die Seinen zu übernehmen.
Wer die Lebenswirklichkeit von Hirten kennt, weiß, dass das ein hartes Geschäft ist. Der Hirte geht seiner Herde gerade nicht voraus und sagt, wo es lang geht. Die Herde weiß meistens selbst viel besser, wo die saftigen Weiden sind. Die Aufgabe des Hirten besteht darin, die Versprengten zu sammeln, sich um die Verlaufenen zu kümmern. Ständig bedroht von Krankheiten oder Unwettern trägt der Hirte die Verantwortung dafür, dass jedes seiner Schafe gesund und heil bleiben kann.
Von meinen Studenten aus Afrika habe ich gelernt, dass Herden auch sehr verschieden in ihrem Verhalten sind: Während man Ziegen ganz gut allein lassen kann, muss man sich um Schafe viel mehr kümmern. Im Bild des Hirten wird das Verständnis von Herrschen und Leiten also radikal umgedeutet: Es wird zur Verantwortung für das Leben der Anvertrauten.
Das Bild birgt aber auch Gefahren, wenn es zu rasch auf die Kirche übertragen wird. Dann ist der Hirte der einzige, der denkt, und die Schafe völlig abhängig, um nicht zu sagen, blöd. Die gesamte Sorge liegt beim Hirten. Das Bild birgt eine potentielle Degradierung in sich und überfordert die, die sich als Hirten verstehen, seien dies jetzt Priester oder sogenannte Laien. Deshalb ist es so wichtig, daran zu erinnern, dass Jesus der wahre Hirte ist. An seinen Worten, an seinem Beispiel lässt es sich trefflich orientieren, meine ich. Jesus ist es, dem die Herde nachfolgt und der sie beschützt. In der Herde haben demgegenüber alle füreinander eine Sorgepflicht, sie sind in abgeleitetem Sinn füreinander Hirten, oder Pastores, wie das lateinische Wort dafür heißt.
Das betont auch das Zweite Vatikanische Konzil der Katholischen Kirche, wenn es die Pastoral der Kirche - also deren Hirtenverantwortung - als Aufgabe aller Gläubigen bezeichnet. Keiner lebt für sich allein, niemand steht für sich allein. Alle sind füreinander Hirten, wenn auch die Begabungen und Aufgaben verschieden sind. Alle dienen dem Leben.