Roman von Johannes Gelich
Wir sind die Lebenden
Der begabte und gebildete Mensch, der es sich durch seine begünstigte Herkunft leisten kann, das Leben in Faulheit und Passivität zu verbringen, ist ein traditionsreicher literarischer Typus.
8. April 2017, 21:58
Einen der bekanntesten Vertreter dieser Anti-Heldenfigur hat der russische Schriftsteller Iwan Gontscharow mit seinem 1859 erschienen Roman "Oblomow" geschaffen. Nun wagt sich der 1969 in Salzburg geborene Autor Johannes Gelich in seinem nun dritten Roman "Wir sind die Lebenden" an diesen Charakter heran.
Überflüssiges Dasein
Auch bei Gelich führt der Ich-Erzähler, der den manierierten Namen Nepomuk Lakoter trägt, ein überflüssiges Dasein. Lakoter ist Anfang vierzig und kann sich dank der Einnahmen aus einem ererbten Zinshaus im Müßiggang üben. Wie der russische Oblomow denkt auch Nepomuk nicht daran, das Erbe zu pflegen, weshalb es immer mehr in Verfall gerät - ein Umstand, an den ihn regelmäßig sein charakterlicher Gegenpart erinnert: die erfolgreiche, lebensbejahende und nervige Schwester, der die andere Hälfte des Zinshauses gehört.
Doch Nepomuk selbst lässt sich nur ungern unter Druck setzen und vom Leben erwartet er ohnedies nicht allzu viel: In einer schäbigen kleinen Wohnung dämmert er auf dem Sofa dahin und lässt sich, wegen eines gebrochenen Beins gänzlich zum Nichtstun gezwungen, von einer rumänischen Haushälterin bedienen. Seine einstigen schriftstellerischen Ambitionen haben sich im Rauch unzähliger Joints aufgelöst, und außer dem gelegentlichen Gezupfe an seiner Sitar, ist er beschäftigungslos. Bloß in Beschwerdebriefen an diverse Unternehmen verleiht er seiner Lebensverachtung Ausdruck.
In einer Welt, in der es von allem zu viel gibt, in der jeder Versuch des Strebens nach Originalität scheitern muss, zelebriert der Protagonist die zerstörerische Kraft der Passivität, die gleichzeitig die letzte Verbindung Lakoters zum Leben ist.
Das Leben, eine Katastrophe
Zitat
(...) in meiner Passivität finde ich meine Freiheit. In meiner Kapitulation vor dem Leben. Und in meiner Kapitulation vor diesem Augenblick, meiner Hingabe an diesen Moment, und nicht an die Scheißvergangenheit, und noch weniger an die noch beschissenere Zukunft. Ich bin betrunken und bald bin ich tot, bald bin ich nur ein verdammter Haufen Knochen in einem modrigen Sarg, und das einzige, das mich in diesem Leben rettet, ist die Kapitulation vor der Gegenwart.
In den einsamen Ergüssen über Wahnsinn, Stumpfsinn und die Erkenntnis, dass das Leben eine einzige Katastrophe ist, offenbaren sich unvereinbare Gegensätze, die Lakoters Existenz lähmen: So lehnt er seine bürgerliche Herkunft ab, ist aber gleichzeitig deren Nutznießer, da sie ihm das Nichtstun ermöglicht. Er ist einerseits ein höchst idealistischer Mensch, der die Scheinmoral der verhassten Gesellschaft aufdeckt, jedoch muss der Wunsch nach einer Veränderung dieser Gesellschaft letztlich an der eigenen Untätigkeit scheitern. Es sind die klassischen Symptome des "überflüssigen Menschen", die zu Hilflosigkeit, Ironie, Fatalismus und Langeweile führen und hinter denen eine scharfe Kritik der Gegenwart steht.
Zitat
Die ganze Welt ist zu einer verdammten Tour verkommen. Es gibt keinen Kommunismus, es gibt keinen Sozialismus, es gibt keinen Anarchismus mehr, der einzige -ismus, der noch übrig geblieben ist, ist der Tourismus! Und mit dem Tourismus diese unerträgliche Dummheit, in der wir leben.
Doch kein Oblomow
Bei Johannes Gelich wird die Welt aber nicht nur innerlich, durch die Abwesenheit der Werte, sondern auch äußerlich als reale Folge dieser Wertlosigkeit bedroht: durch die Atomreaktorkatastrophe von Fukushima. Der Atom-Schrecken ist im Buch allgegenwärtig und dient Nepomuk als Beweis für die Sinnlosigkeit des Seins, als Symbol für die paradoxe Angst vor der Endlichkeit des von ihm gering geschätzten Lebens, aber auch als Ausrede dafür, nicht zur Tagesordnung übergehen zu müssen. Die Spannung zwischen Sicherheit und Angst erkennt Nepomuk als zentrales Thema seiner verlorenen 40-plus-Generation.
Zitat
Es gibt keine Gefahr mehr? (...) Es gibt immer eine Gefahr. Wir leben in einer Risikogesellschaft. Die Gefahr lauert überall. Nicht, dass ich Angst hätte, mich stört die Gefahr weniger als die Sicherheit, in der sich alle wiegen. Wissen Sie, wie viele Atomkraftwerke in unserer Nachbarschaft stehen?
Wie bei Gontscharows Oblomow ist es auch hier eine Frau, die eine innere Wende in der Hauptfigur hervorzurufen scheint. Lakoter macht die Bekanntschaft der hübschen Nichte seiner Haushälterin. Die im weiteren Verlauf dargestellte Liebesgeschichte des wohl gegen die Intention des Autors nicht besonders liebenswert ausgefallenen Anti-Helden gerät Johannes Gelich dann arg konstruiert.
Die Figuren agieren im Laufe des Romans zunehmend marionettenhaft und mutieren daher mehr und mehr zu literarischen Klischees. Ähnlich ergeht es den philosophischen Fragestellungen im Buch, die nicht über phrasenhafte Gemeinplätze hinausreichen. Denn - und das wusste schon Iwan Gontscharow - die lethargische Hauptfigur alleine macht noch keinen Roman. Gelich beschreibt die inneren Konflikte seiner Figur so plakativ, dass es ihm nicht gelingt, den Leser mit seinem eigenen Wertesystem zu konfrontieren und so einen Oblomow des 21. Jahrhunderts zu kreieren.
Service
Johannes Gelich, "Wir sind die Lebenden", Haymon Verlag
Haymon Verlag