Roman von Josef Winkler
Mutter und der Bleistft
Josef Winkler hat eine Obsession. Beharrlich kreist sein Schreiben um die gewaltgesättigte, von einem süßlichen Katholizismus umwehte Landkindheit, die er in den 1950er und 60er Jahren auf dem sogenannten "Enznhof" im Weiler Kamering im Kärntner Drautal verlebt hat.
8. April 2017, 21:58
Auch in seinem jüngsten Buch - einer heimelig-bitteren Hommage an die Mutter - taucht der Autor tief ein in seinen Kameringer Kindheitskosmos, bis heute das Gravitationszentrum des Winklerschen Schreibens. Bezeichnet man Josef Winklers Texte allerdings als "Antiheimatliteratur", wie es in Feuilletons und Literaturwissenschaft gang und gäbe ist, wird der Dichter fuchsig:
"Ich habe mit Antiheimatliteratur überhaupt nichts zu tun. Stilistisch komme ich nicht von der deutschen oder von der österreichischen Gegenwartsliteratur, stilistisch komme ich eher von den Franzosen, vom Existenzialismus und vom Surrealismus, und in meiner Jugend habe ich die Russen sehr gern gelesen, mehrere tausend Seiten Dostojewski. Ich bin vollkommen überzeugt davon, dass meine Bücher nicht in die deutsche und österreichische Tradition einzuordnen sind."
Es sei da was Eigenartiges passiert, so Winkler weiter: "Dafür sind die Germanisten und das Feuilleton verantwortlich: Wenn jemand auf dem Land aufgewachsen ist, und es schreibt jemand, der auf dem Land aufgewachsen ist, ein Buch, ein sehr schönes, hochartifizielles, literarisches Buch über das Leben, über die Liebe und über den Tod, und wenn dort, in diesem Buch, weil der Autor auf dem Land aufgewachsen ist, ein Kirchturm vorkommt, weil vielleicht ein Misthaufen dampft und am Rande des Misthaufens zerbrochene Eierschalen herumliegen, dann ist plötzlich von Heimatliteratur die Rede. Und wenn jemand in Wien, oder sagen wir, in Rom aufwächst und über das Leben, die Liebe und den Tod schreibt, ist plötzlich nicht mehr von Heimat- oder Antiheimatliteratur die Rede. Von diesen Dingen ist immer nur dann die Rede, wenn es Beschreibungen vom Landleben gibt. Deshalb behaupte ich, dass ich mit Heimatliteratur oder Antiheimatliteratur genauso viel oder genauso wenig zu tun habe wie jemand, der über sich in Wien schreibt, weil er eben dort aufgewachsen ist."
Das Wort "gefallen"
Ob Antiheimatliteratur oder nicht, es sind die wohlbekannten Winkler-Sujets, mit denen uns der Autor in "Mutter und der Bleistift" konfrontiert, intertextuell grundiert mit unzähligen Verweisen auf Peter Handke, Ilse Aichinger und Peter Weiss, drei von Winkler hochgeschätzten Autoren.
Auch die eine oder andere kleine Rahmenhandlung hat der Autor eingebaut. Im ersten der drei Texte zum Beispiel begegnen wir dem Ich-Erzähler auf einer ausgedehnten Wanderung durch die buddhistischen Felstempelanlagen im indischen Ellora, wo Winkler sich in friedlichen Erkundungspausen immer wieder in Ilse Aichingers Prosaband "Kleist, Moos, Fasane" vertieft und sich zugleich seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter erinnert, einer pflichtbewussten Bäuerin aus Kamering, die sich, geprägt von den bitteren Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend, eine herbe, schweigsame Schale zugelegt hatte.
Zwei ihrer neun Geschwister, so berichtet Winkler, habe die Mutter im Kleinkindalter verloren, ein Geschwisterchen starb unmittelbar nach der Geburt, eines wurde von der Diptherie hinweggerafft; drei ihrer Brüder, 18, 20 und 22 Jahre alt, sind binnen eines einzigen Jahres im Zweiten Weltkrieg gefallen, zwei an der Ostfront, einer, Adam, in Jugoslawien. Diesem Adam - einem Onkel, den er nie kennengelernt hat - widmet Winkler einige bitter-ironische Reminiszenzen in seinem Buch. Er schreibt:
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Vom Wort "gefallen" war immer die Rede, er ist nicht erschossen oder getötet worden, er ist "gefallen", und er war ein Held, hat es immer geheißen, und es war ein Heldentod, hat es immer geheißen (...), und dass er, der Adam "übereifrig" war, hat es geheißen, auch in seiner Todesminute soll er übereifrig gewesen sein und als Erster mit einem Maschinengewehr in der Hand - so schilderten es seine überlebenden Kameraden - auf der Suche nach dem Feind eine Tür aufgetreten haben und in einen Keller eingedrungen - und durch eine hochgehende Mine in mehrere Stück zerrissen worden sein. Jedenfalls mussten seine Kameraden die Hände, die Füße und den Kopf des Gefallenen im rauchenden und nach Schießpulver riechenden Keller zusammenklauben, das Wort "zusammenklauben" war auch mehrmals in meiner Kindheit gefallen, wenn von Adam die Rede war.
Schmerzhafte Erziehungsmethoden
Die detailversessene Beschreibung von Gewalt- und Traumatisierungserfahrungen ist fester Bestandteil des Winklerschen Schreibens, ob es nun um die kollektiven Traumatisierungen und Verstrickungen geht, die Krieg und Nationalsozialismus auch ins hinterste österreichische Dorf getragen haben, oder um die persönlichen Kindheitserfahrungen des Autors mit einem Erziehungsstil, den Katharina Rutschky und andere später als "Schwarze Pädagogik" bezeichnet haben.
Ein Beispiel: In der mittleren der drei Erzählungen berichtet Winkler von einem an sich harmlosen Bubenstreich: Auf der großen, heißen Platte des elterlichen Sparherds verfeuert der kleine Josef einige dem Großvater entwendete Briefmarken, weil ihm der Anblick der verzischenden Wertzeichen eine eigenartige Freude bereitet. Bundespräsident Adolf Schärf geht ebenso in Flammen auf wie der Turbinenerfinder Viktor Kaplan und die Textdichterin der österreichischen Bundeshymne, Paula von Preradovic. In den Augen der Mutter ein gotteslästerlicher Akt des Übermuts, ein unerhörtes Sakrileg, das nur durch den Einsatz einer Züchtigungsrute aus biegsamer Birke gesühnt werden kann.
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Ich ließ die Hose über die Oberschenkel herunterrutschen und begann, während die Mutter die schwarze, nach Urin riechende Kinderuntherose mit einer Handbewegung hinunterstreifte, vor Angst zu winseln und zu jammern. Sie rief im Befehlston: "Leg dich über den Stuhl!" Sie schlug die geschmeidige Birkenrute so lange auf meinen bloßen Hintern, bis ich den Schweiß ihrer Anstrengung roch. Die Zähne zusammengebissen, das Gesicht hochrot, starrte ich auf den Küchenboden und hielt mich mit den zitternden Händen an den Füßen des Stuhls fest. Nach der langen Züchtigung - es war die längste meines Lebens - hatte ich solche Schmerzen an meinen Hinterbacken, dass ich nur mehr langsam und breitbeinig gehen konnte. Links und rechts neben dem Stuhl lagen die abgesplitterten Rutenteilchen. Ich schlich mich ins Bett, tauchte erst am frühen Abend wieder auf und setzte mich zerknirscht unter dem Herrgottswinkel auf die Küchenbank. An den spöttischen Gesichtern meiner Geschwister konnte ich ablesen, dass sie Bescheid wussten.
Immer wieder meisterhaft
Eine österreichische Nachkriegskindheit, wie es hunderttausende, ach was, Millionen gegeben hat. Stilistisch prunkt Josef Winkler auch diesmal mit jener farb- und detailgesättigten Prosa, die seit seinem Debüt 1979 zu seinem Markenzeichen geworden ist.
Winkler gehört zu den begnadeten Stilisten der deutschen Sprache - er pflegt die Kunst der langen, litaneihaften Sätze, in denen er die Schrecknisse einer katholischen Nachkriegs-Kindheit eindrücklich heraufbeschwört. Das alles kennt man zwar auch aus früheren Winkler-Büchern, aber der 60-jährige Meisterstilist erstaunt und erschüttert einen doch jedes Mal wieder von Neuem.
Service
Josef Winkler, "Mutter und der Bleistft", Suhrkamp-Verlag
Suhrkamp