Belgrad Hauptbahnhof

Der Letzte löscht das Licht

Ich sitze auf Perron eins an einem der runden Tische der Bahnhofsrestauration. Das mache ich immer so, wenn ich in dieser lauten Stadt Ruhe suche. Der Hauptbahnhof, die Glavna zeleznicka stanica, ist Belgrads stillster Ort. Züge verkehren selten. Fahrgäste gibt es nur in geringer Zahl: genug, um ein wenig Bahnhofsatmosphäre zu schaffen, nicht so viele, dass sie das Idyll stören könnten.

Bisweilen kündigt eine gelangweilte Frauenstimme die Ankunft oder Abfahrt eines Zuges an. Das heißt nicht, dass dieser Zug tatsächlich bald ankommen oder abfahren wird. Sie will es nur gesagt haben, für alle Fälle. Dann wieder erklärt sie, der Zug nach Nis fahre nun nicht an diesem, sondern an jenem Bahnsteig ab. Das Häufchen der Wartenden zieht mit Sack und Pack um. Die Leute murren nicht, obwohl sie ahnen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Dann wieder Stille. Ein Elektromotor surrt. Die Spatzen pfeifen.

Im Bahnhofsrestaurant "Restoracija Beograd"

Draußen vor den Toren herrscht höllischer Verkehr. Neben dem Zug- befindet sich der zentrale Busbahnhof. Die Überlandbusse fahren hier, mit kurzen Atempausen, im Sekundentakt ab. Ihre Motoren rasseln wie tuberkulöse Lungen, wenn sie sich in die Kolonnen der Karaordeva drängen. Traditionellerweise tragen die Busflotten fantasievolle Namen, mit einem Nachhall aus der Zeit ihrer Gründung oder auch ihrer Privatisierung: Raketa Uzice, Top Gan Cacak. Das größte Unternehmen aber, der Platzhirsch, heißt ganz zeitlos, leichtflügelig "Lasta", die "Schwalbe".

Die "Glavna zeleznicka stanica" ist ein Kopfbahnhof aus den 1880er Jahren, L-förmig gebaut; die Fassade ist klassizistisch, kirchenartig, das Mauerwerk für die Ewigkeit: Kaum ein Laut dringt ins Innere auf Perron eins. Noch sonderbarer, wunderbarer: Das Restoran "Restoracija Beograd" beschallt seinen Gastgarten nicht mit Musik.

Die Kellner kennen mich seit Jahren. Sie tragen die blauen Anzüge der staatlichen Dienstleistungsbetriebe. Sie sind freundlich, gelassen, unaufdringlich. Man kann hier türkischen Kaffee trinken oder ein Bier, auf die Bahnsteige schauen, Ruhe finden. Rauchen. Die Brandlöcher in den Stofftischdecken sind teils frisch und schwarz umrandet, teils alt, längst ausgewaschen, mit Zigaretten, benannt nach jugoslawischen Flüssen, im Dienst der Brüderlichkeit hineingebrannt: Drina, Drava, Morava, Zeta, Vardar, Ibar.

Bahnhof mit Portier

Am Bahnhof gibt es einen Portier. Früher, es ist eine Weile her, hat er die Eintretenden, ihre Billetts kontrolliert. Er hat einen kleinen Verschlag im Eingangsbereich, aber dort hält er sich nur selten auf. Die meiste Zeit schreitet er den Platz bei den Bahnsteigen ab, zwischen der Bahnhofswirtschaft und der öffentlichen Toilettenanlage vis-à-vis. Er ist klein, fast winzig. Die Uniform ist ihm zu groß, aber nur ein bisschen, sodass er nicht lächerlich wirkt, sondern lässig, nonchalant. Die Dienstmütze hat er zurückgeschoben, nicht nur, weil es sich so besser am Kopf kratzen lässt. Seine Schuhe sind abgetragen: Er ist viel unterwegs. Er steht leicht nach hinten gebeugt, die Hände am Rücken verschränkt, ein kleingewachsener Mann, der auf seine Würde achtet. Der Portier raucht viel, spuckt aber nicht auf den Boden. Er mag Ende fünfzig sein.

Die Polizeistation am Bahnhof hat eine Tür zu den Bahnsteigen hin. Mit der ersten Frühlingssonne zieht es die Polizisten heraus auf die warmen Pflastersteine. Sie räkeln sich wie nach langem Schlaf. Sie spielen mit ihren Schlagstöcken, friedlich und zufrieden. Sie schlendern zum Portier, rauchen, verhandeln mit ihm die Neuigkeiten des Tages. Die Polizisten tragen flottere Uniformen als der Portier, aber auf dieser Seite der Welt ist er der Chef.

Vier Frauen in knallroten Blusen kümmern sich um die Sauberkeit. Sie kehren Zigarettenstummel in auf- und zuschnappende Schaufeln. Mit raubvogelscharfem Blick erkennen sie über mehrere Bahnsteige hinweg, wenn ein Wartender den vorletzten Zug seiner Zigarette nimmt. Eine geht hin, der Raucher muss zur Seite treten oder, falls er sitzt, seine Beine heben. Ungefähr alle zwei Stunden kommen zwei weitere Frauen hinzu. Sie bringen Mülleimer mit, um das gesammelte Material zu übernehmen. Es gibt dabei viel zu besprechen, viel zu lachen. Die Polizisten eilen herbei, posieren und sind geistreich, so gut es geht.

Warum Belgrad?

Zeit ist vergangen. Die Sonne steht flach und rot über dem Dach der öffentlichen Toilette. Die nach Nis Reisenden sind von Bahnsteig sechs auf Bahnsteig drei gezogen. Ich werfe einen letzten Blick auf den Portier. Er strahlt Ruhe aus, Zufriedenheit, Souveränität; er bekleidet ein Amt.

Beruhigt gehe ich hinüber nach Belgrad. Ich verbringe viel Zeit in der Stadt, wohne einmal in diesem, dann in jenem Viertel und fühle mich überall wohl. Warum Belgrad, fragen sie in Wien. Warum Berlin, warum New York, warum Paris, frage ich zurück. Man sieht sich an, und keiner versteht des anderen Frage.

Auch mit tausend Sätzen könnte ich nichts erklären. Ein Grund würde immer fehlen, der tausendunderste, und dann noch einer.

Glavna zeleznicka stanica

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Kein blaues Licht mehr

Dennoch ein Versuch: Ich mag die hier vorherrschende Großzügigkeit im Umgang mit Ordnungsregeln, das Belgrader Korrektiv gegen die einebnenden Tendenzen der Globalisierung. Nein, das sind große Worte, lieber so: In der Ibarska, einer kleinen Straße am Lekino Brdo oberhalb der Stadtautobahn, ist auf einen rostigen Laternenpfahl ein vierfarbiges, lachendes Gesicht gemalt, zirka apfelgroß. Es streckt die Zunge heraus. Darüber, ebenfalls mehrfarbig, "FRIZER" ("Friseur"). Belgrad ist voll mit derlei Werbebotschaften farbverliebter Kleinstdienstleister. Hundert Jahre könnte ich noch durch die Stadt wandern und würde mich daran nicht sattgesehen haben.

Noch eine Farbe - eine ganz andere Geschichte: Vor etlichen Jahren waren große Straßenzüge in Novi Beograd nachts plötzlich in strahlendblaues Licht getaucht. Man saß auf den angenehm vibrierenden Resopalbänken der asthmatischen Stadtbusse, fuhr durch die Boulevards des Antifaschistischen Kampfes oder der Jugendbrigaden, durch den (damaligen) Lenin- oder den Nikola-Tesla-Boulevard, und es war, als schwömme man in einem Urzeitfisch durch ein futuristisch beleuchtetes Aquarium. Dann - vor zwei Jahren, vor drei? - war das Licht plötzlich aus. Tesla wieder im Dunkeln. Die Hypo Bank hat ihre Leuchtreklame an den Lichtmasten von Neu-Belgrad ausgeknipst. Heute strahlt ihr Schriftzug nur noch auf dem Hochhaus, in dem früher das ZK der Kommunistischen Partei beheimatet war. Wahrscheinlich ist der Lichtschalter kaputt.

Stadt im Wandel

Wenn es dunkelt, verlässt auch der Kofferträger den Bahnhof. Er ist ein alter Mann und müde vom Tag, von vielen Tagen. Halb schiebt er seinen schweren Wagen, halb hält er sich an ihm fest. Der Schnurrbart hängt ihm von den Mundwinkeln, wie schlecht angeklebt. Im Inneren der "Restoracija Beograd" versorgen ihn die Kellner mit klarem Schnaps aus eigenen Beständen. Er hat bei ihnen unbegrenzt Kredit. Sie zählen zu den Gründen, warum ich mich hier wohlfühlen kann.

Dieser Blick auf Belgrad ist rückwärtsgewandt? Ja sicher, stimmt. Natürlich wird die Stadt auch mit jedem Tag moderner, in ihrem eigenen, stotternden Rhythmus. Und den Portier, um die Wahrheit zu sagen, gibt es schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Er wurde in Frühpension geschickt, vielleicht ist er verstorben. Man hat seine Stelle nicht nachbesetzt.