Türkei-Proteste: Gül contra Erdogan

In der türkischen Führung zeigen sich deutliche Differenzen darüber, wie mit den
Protesten gegen die Regierung umzugehen ist. Während Ministerpräsident Erdogan seinen harten Kurs fortsetzen will, setzt Staatspräsident Gül Zeichen der Verständigung. Über 1.400 Menschen sollen in den letzten 4 Tagen bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten verletzt worden sein.

Morgenjournal, 4.6.2013

Proteste spalten türkische Führung

In einigen Straßen von Ankara scheint Krieg zu sein. Vermummte Regierungsgegner werfen mit Eisenkugeln nach Polizisten – die feuern mit Tränengasgranaten zurück, und zielen dabei manchmal direkt auf Menschen. Die Polizisten von Ankara haben die Personalnummern auf ihren Helmen überklebt. Ihr Befehl lautet, den Protest mit allen Mitteln von den Regierungsgebäuden fern zu halten. Aber auch in Istanbul wurden in der vergangenen Nacht Tränengasbomben aus Polizeihubschraubern abgeworfen. Bilder von Polizisten, die Demonstranten jagen, sind seit dem Wochenende auch im türkischen Fernsehen zu sehen - seit Staatspräsident Gül Verständnis für die Anliegen der Demonstranten gezeigt hat.


"Wir haben die Stimmen dieser Leute gehört", sagte Gül. Demgegenüber spricht Ministerpräsident Erdogan weiterhin von Provokateuren. Von Marokko aus, wo Erdogan gerade auf Staatsbesuch ist, erklärte er, möglicherweise würden ausländische Mächte hinter den Protesten stecken. Sein Geheimdienst gehe diesem Verdacht jedenfalls nach.

Verschieden Welten

Noch selten waren die Bruchlinien innerhalb der türkischen Führung so deutlich herauszuhören. Zwanzig Jahre lang waren Gül und Erdogan enge Verbündete gewesen. Auch wenn der Staatspräsident immer einen gemäßigteren Ton bevorzugt hat, und Erdogan oft provoziert, so waren beide doch bemüht, ihre Differenzen nicht deutlich zu zeigen.
Doch nun scheinen die Beiden in unterschiedlichen Welten zu leben. Während der Regierungschef die linke Oppositionspartei angreift und behauptet, sie habe die Menschen aufgehetzt, empfängt der Präsident den Oppositionschef zu einem Gespräch. Während Erdogan sich darauf beruft, dass er die Mehrheit hinter sich habe, erwidert Gül, Demokratie sei nicht nur eine Sache der Stimmenmehrheit. Erdogan sagt mit drohendem Unterton, er könne seine Anhänger nur mit Mühe davon abhalten, ebenfalls auf die Straßen zu gehen. Gül ruft beide Seiten zu Mäßigung und Vernunft auf.

Folgen für Machtverteilung

Dabei geht es offenbar um mehr als um die übliche Rollenteilung zwischen einem kämpferischen Regierungschef und einem Staatsoberhaupt, das über den Dingen stehen soll. Die Proteste gegen Polizeigewalt, die nun zu Protesten gegen die Regierung geworden sind, könnten sich auf die Machtverhältnisse in der türkischen Führung auswirken. Bisher war Recep Tayyip Erdogan ja davon ausgegangen, dass er nächstes Jahr mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten gewählt würde. Und er wollte dieses Amt vorher mit einem Referendum zu einer Verfassungsänderung stark aufwerten.

Diese Pläne sind nun in Frage gestellt. Die Eskalation auf den türkischen Straßen könnte den erfolgsgewohnten Erdogan viele Sympathien kosten. Damit aber würde der kompromissbereitere Gül möglicherweise künftig eine stärkere Rolle spielen als ihm bisher zugedacht war. Doch das alles wird wohl auch davon abhängen, wie lange die Konfrontation zwischen Oppositionellen und Polizei andauert. Der Ministerpräsident hat sagen lassen, dass er vor seiner Rückkehr am Donnerstag mit dem Ende der Proteste rechnet. Demgegenüber haben Gewerkschaften für die nächsten Tage bereits einen zweitägigen Streik zur Unterstützung der Proteste angekündigt.