Bibelkommentar zu Lukas 7, 11 – 17

Jesus befiehlt einem Toten, dass er aufstehen soll und schon kehrt dieser ins Leben zurück. Eine unglaubliche Geschichte voller Dramatik, mit der ich mir aber vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen schwer tue.

"Einige Zeit später ging er in eine Stadt namens Nain; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm.
Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie.
Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht!
Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf!
Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.
Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen.
Und die Kunde davon verbreitete sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum."

Eine dramatische Erzählung, die der Evangelist Lukas hier aufgeschrieben hat: Jesus holt einen Toten zurück ins Leben. Unglaublich!
Ich kann Tote nicht wiedererwecken und ich habe auch noch niemanden kennengelernt, der das vermag. Meine Erfahrung spricht grundsätzlich dagegen, dass so etwas möglich ist: Mein toter Großvater, verunglückte Freunde und die vielen mir unbekannten Toten, die tagtäglich in Syrien und überall auf der Welt betrauert werden -niemand von ihnen ist nach dem Tod von der Bahre wieder aufgestanden. Wer tot ist, der bleibt tot - so zeigt es unsere Erfahrung und so sagen es uns die modernen Wissenschaften.

Und dennoch wird in den katholischen Kirchen heute die Erzählung der Auferweckung des jungen Mannes von Nain als frohe Botschaft verkündet.

Was soll ich mit diesem sperrigen Text anfangen? Gegen meine Vernunft entscheiden? Einfach dran glauben und gut ist‘s? War der Text für frühere Generationen bestimmt, die noch ganz selbstverständlich an Wunder glaubten?

Dagegen spricht meine tiefe Überzeugung, dass die Texte der Bibel auch heute, beinahe 2000 Jahre nach ihrer Entstehung und auch für mein Leben im Jahr 2013 relevant sind. Was bedeutet das nun angesichts dieser Totenerweckung? Wie kann ich zu einem Sinn für mich und für heute vordringen?

Ich bin gezwungen, genau auf den Text hinzuschauen und mich nicht nur auf das konkrete Wunder zu konzentrieren. Ein Schlüssel liegt bereits in den ersten paar Sätzen. Also zurück zum Anfang:

Da begegnen sich zwei Menschenmengen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Ein Zug des Lebens und ein Zug des Todes. Inmitten des Einen steht Jesus, das Leben schlechthin - in der Mitte des anderen eine Witwe mit ihrem toten Sohn. Wenn ich einem Begräbniszug begegne, mit dem ich nichts zu tun habe, dann weiche ich wahrscheinlich aus, schaue betreten auf den Boden und warte bis er vorüber ist. Ich nehme an, das hatten auch die Menschen um Jesus vor: ausweichen und die Trauernden nicht stören. Doch wie so oft in den Erzählungen von Jesus tut er genau das Unerwartete: Er sieht nicht weg sondern er sieht die Trauergäste an, konkret die Mutter des Verstorbenen. Als Witwe hatte sie mit ihrem einzigen Sohn auch ihre Zukunft verloren. Sie trägt ihre eigene Zukunft mit zu Grabe - sie hat niemanden mehr, der sich um sie kümmert. Und Jesus lässt das nicht kalt, die Traurigkeit und Ängste dieser Frau berühren ihn. Er hat Mitleid mit ihr.

Das erinnert mich an den ersten Satz der Pastoralkonstitution des zweiten Vatikanischen Konzils. Sie beginnt mit den Sätzen: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger und Jüngerinnen Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.

Was Jesus in dieser Situation tut, ist genau das: Er gibt der Trauernden Raum in seinem Herzen - die Not dieser Frau findet in seinem Herzen Widerhall. Er nimmt sie wahr mit all Ihren Sorgen, Ängsten und Nöten, aber auch mit den Hoffnungen und Sehnsüchten, die sie in sich trägt. Er lässt sich von ihrem Schicksal berühren und kann sie so berühren ohne übergriffig zu werden. Er hat Mitleid mit ihr.

Nun hat das Wort Mitleid oft einen schalen Beigeschmack. Und manchmal verbitten wir uns - und das zu Recht - das Mitleid anderer. Es gilt jedoch zu unterscheiden zwischen zweierlei Arten von Mitleid. Stefan Zweig beschreibt in seinem Roman "Ungeduld des Herzens" diese beiden Arten von Mitleid folgendermaßen:

"Das eine, das schwachmütige und sentimentale Mitleid, ist eigentlich nur die Ungeduld des Herzens, das versucht sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück. Dieses Mitleid ist kein Mit-leiden, sondern nur die instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele.
Und das andere - das einzige, das zählt - ist das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid. Es weiß, was es will. Es ist entschlossen, geduldig und mit-duldend, alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft - und noch über dieses Letzte hinaus."

Jesu Mitgefühl mit der Frau ist von dieser zweiten Art, denke ich, eines, das sich nicht heraushält, das keine Ratschläge von oben herab gibt, sondern sich selbst betreffen lässt, das sich dem Leidvollen aussetzt.

Und er fordert mich dazu auf, mich von dem Unglück und dem Leid meiner Mitmenschen in dieser Art berühren zu lassen, in diesem zweiten Sinn mitzuleiden.

Ich kann Tote nicht wieder ins Leben zurückrufen. Zumindest nicht in einem biologischen Sinn, aber vielleicht kann ich es auf einer sozialen Ebene. Ich kann keiner trauernden Mutter ihren Sohn zurückgeben, aber ich kann mich an ihre Seite stellen und sie vor dem sozialen Tod retten, vor dem Alleinsein.

Und gerade der soziale Tod ereignet sich sehr oft im Alltag: Wenn ich die Gerüchte über andere weiter tratsche; wenn ich die eigenen Vorurteile so vor mir hertrage, dass sie Beziehung zum anderen verhindern; wenn ich unsympathische Mitmenschen ausgrenze und ignoriere.

Nein, ich kann keine biologisch Toten zum Leben erwecken! Aber ich kann sozial Toten ermutigend sagen: Steh auf!