Unsere besten Jahre
Wir Middle-Ager
Der britische Biologe David Bainbridge hat die so genannten "mittleren Jahren" zwischen 40 und 60 genauer unter die Lupe genommen und seine Ergebnisse in einem Buch zusammengefasst. Er beschreibt diese Phase gar als "Triumph" und "Krönung der menschlichen Evolution".
8. April 2017, 21:58
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"Das mittlere Alter des Menschen ist ein einmaliges Phänomen – es unterscheidet sich grundlegend von der Lebensmitte aller anderen Tiere. Ein wichtiger Grundgedanke meiner neuen Geschichte des mittleren Alters ist, dass die Lebensmitte beim Menschen etwas Gutes ist – und nichts Schlechtes. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass sie als Befreiung angesehen werden kann."
Zunächst widmet sich David Bainbridge den biologischen Fakten: Im fünften und sechsten Jahrzehnt seines Lebens verändert sich der Mensch körperlich, sexuell, emotional, intellektuell und sozial. Genetisch betrachtet ist das mittlere Alter eine konfliktreiche Phase, in der es vor allem gilt gegen altersbedingte Verfallserscheinungen anzukämpfen.
Eine der wesentlichen Fragen, die sich stellt: Warum erfolgt der körperliche Wandel häufig so abrupt? Bainbridges Erklärung: Menschen mittleren Alters spielten stets eine wesentliche Rolle in der Nahrungsbeschaffung und der Weitergabe von Information an die Jungen, andere Eigenschaften wie etwa Attraktivität haben schlichtweg keinen Sinn mehr.
Die Evolution verliert das Interesse an möglicherweise für uns bedeutenden Details unserer Außenwirkung. Am schlimmsten erwischt es dabei die Haut. Der Abbau von Collagen und Elastin in der Dermis sorgen für die meisten kosmetischen Probleme. Hier hat der Autor gleich auch ein paar Tipps parat. Diese reichen von der Zufuhr von Vitamin A bis zur Schlafposition am Rücken.
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"Wir wollen doch alle weiterhin so sein wie Luke und Leia aus "Star Wars", auch wenn es der Natur egal zu sein scheint, dass wir früher oder später aussehen wie Yoda."
Doch damit nicht genug: Die Haare werden grau oder fallen überhaupt aus und wir werden dicker. In den Industrieländern nehmen 80 Prozent der Menschen im fünften Lebensjahrzehnt zu. Zwischen 40 und 60 steigt der Körperfettanteil bei Frauen von 33,4 auf 37,8 und bei Männern von 23,6 auf 29,3 Prozent.
Bei der Schuldfrage denkt man zunächst natürlich an die üblichen Verdächtigen. Doch sexuelle Zufriedenheit, Faulheit, Langeweile und Gier sind nicht die einzigen Gründe. Vielmehr treten im Middle-Age gewaltige Veränderungen auf. Als wesentlichen Punkt führt Bainbridge die Sarkopenie an, den stetigen, altersbedingten Muskelabbau.
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"Der Schlamassel wird noch dadurch vergrößert, dass Menschen im mittleren Alter meist gar nicht bemerken, dass sie Fett ablagern, weil es ja an die Stelle der abnehmenden Muskelmasse tritt."
Doch für den Autor gibt es auch einen wesentlichen Grund zur Freude: Unser Gehirn. Neuere Studien bestätigen immer wieder, dass der mittelalterliche Denkapparat Dinge vollkommen anders erledigt, als der jugendliche und darüber hinaus auch noch viel effizienter.
Der Biologe erläutert, dass die genetische, auf Entwicklung und Aufbau programmierte "Lebensuhr" nach wie vor tickt und unser Gehirn dazu bringt, einwandfrei zu arbeiten. Auch hier sieht er den Hauptgrund evolutionär bedingt. Unsere Vorfahren verlegten sich ab 40 vom aktiven Jagen und Sammeln zur Weitergabe ihrer Erfahrungen an die jungen, kräftigeren Mitmenschen. Das Gehirn musste damals schon äußerst produktiv bleiben.
Experimente haben gezeigt, dass Middle-Ager am besten mit Perspektive und Übersicht umgehen können. Und dass sie nicht nur größere Informationsmengen im Kopf behalten, sondern auch "einen Schritt zurücktreten" und Sachverhalte in einen größeren Zusammenhang bringen können. Die besten Voraussetzungen für Führungskräfte. Was die Psyche betrifft, scheint nichts darauf hinzudeuten, dass es in dieser Lebensphase zu emotionalen Achterbahnfahrten, - Stichwort "Midlife-Crisis" - kommen "muss".
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"Die Menschen lieben die Midlife-Crisis beim Mann. Sie entlockt einfach jedem ein Lächeln. Trotzdem hoffe ich, Sie davon überzeugen zu können, dass es sie gar nicht gibt."
Bainbridge liefert zahlreiche Studien und Statistiken, die seine These unterstreichen. Das oft beschriebene Gefühls-Chaos erlebt demnach nur jeder zehnte, Depressionen gibt es im Middle-Age nicht häufiger als sonst und der männliche Hang zu wesentlich jüngeren Frauen tritt einerseits durchaus auch im hohen Alter auf und kann andererseits in jungen Jahren gar nicht stattfinden.
Der Biologe, übrigens selbst knapp über 40 und seit kurzem Besitzer eines Sportwagens, macht allgemein Mut, die mittlere Lebensphase nicht unbedingt als tristen Übergang zu sehen. Die "Abenddämmerung zwischen dem Strahlen der Jugend und der Finsternis des Alters" hat durchaus ihre positiven Seiten. Nie harmonisieren Verstand und Gefühl so gut, nie agiert der Mensch so energieeffizient und nie ist er mental so stabil.
Er macht vor allem deutlich, dass es sich um kein kulturelles Phänomen der letzten Jahrzehnte handelt, sondern um eine natürliche Entwicklung, die sich über hunderttausende Jahre menschlicher Biologie herausgebildet hat. Ein Grund zur Freude also für alle, die sich in dieser Lebensphase befinden oder einmal befinden werden. Vor allem für jene darunter, die ihr Gehirn nicht nur als Mittel zum Zweck ansehen.
Zitat
"Es ist der kognitive Höhepunkt im Leben des intelligentesten Lebewesens im bekannten Universum."
Service
David Bainbridge, "Wir Middle-Ager. Unsere besten Jahre", aus dem Englischen von Dieter Fuchs, Klett-Cotta