Versuch Weißrussland zu verstehen
Der Abwesenheitscode
Der Philosoph Valentin Akudowitsch hat sich in seinem Essay "Der Abwesenheitscode" mit der schwachen Identität seines Heimatlandes Weißrussland befasst. Er schildert die Geschichte einer Nation, die über Jahrhunderte hinweg ein multinationales Territorium dargestellt hat, unter wechselnden Bezeichnungen und Regimen.
8. April 2017, 21:58
Wenn Nachrichten aus und über Weißrussland zu uns gelangen, dann sind das in der Regel keine guten Nachrichten. In dem europäischen Binnenstaat, der im Osten eingebettet zwischen Lettland, Litauen, Polen, der Ukraine und Russland liegt, werden Oppositionelle unterdrückt und schikaniert, Demonstranten von der Polizei verfolgt und geprügelt und ihre Anführer in Gefängnisse und Straflager gesteckt.
Ein ähnliches Schicksal widerfährt Politikern, die es wagen, den Alleinherrscher Alexander Lukaschenko bei Wahlen herauszufordern. Journalisten, Schriftsteller oder Intellektuelle, die abweichende Meinungen äußern, werden mit staatlichen Mitteln eingeschüchtert, vielen bleibt nur die Emigration ins Ausland.
Einer dieser Intellektuellen ist der Philosoph Valentin Akudowitsch. In seinem Essay "Der Abwesenheitscode" hat er den Versuch unternommen, diese gesellschaftlichen Entwicklungen in Weißrussland zu erklären. Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit der weißrussischen Identität, die sich im Spannungsfeld der lateinischen und byzantinischen Kultur ausgeformt hat.
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Die Vorstellung, wir wären "halb Russland", "halb Europa" ist falsch. Wir sind auch nicht die Summe beider. Wir sind Weißrussen. Das heißt, dass wir uns durch eine fundamentale Eigenschaft von allen anderen unterscheiden - genau wie alle anderen sich voneinander unterscheiden. Die russische Komponente in der Identität der Weißrussen ist ein solches Element unseres Andersseins. Sie unterscheidet uns übrigens vor allem von Russland.
Die politischen und kulturellen Einflüsse, die Weißrussland bzw. Belarus bis heute prägen, sind zahlreich. Bevor das weißrussische Territorium zum russländischen Imperium gehörte - von dem es auch seinen Namen Belarus erhielt - war es vom 13. Jahrhundert an Teil des Großfürstentums Litauen und seit dem 16. Jahrhundert Teil der polnischen Rzeczpopolita, einer der ältesten Demokratien Europas.
Allein in den letzten einhundert Jahren wurde Weißrussland als Russisches Imperium, Weißruthenische Volksrepublik, Litauisch-Weißrussische Sowjetrepublik, UDSSR und schließlich als unabhängige Republik Belarus bezeichnet.
Die historische Entwicklung hat die Weißrussen zu einem toleranten Volk gemacht, so der der Befund des Autors Valentin Akudowitsch. Doch die Toleranz der Weißrussen ist größer als ihr Selbsterhaltungstrieb.
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Eine politische Idee kann sich nur dann im kollektiven Bewusstsein eines ganzen Volkes verankern, wenn diese sich bereits als eine Gemeinschaft versteht, die von Gott auserwählt wurde. Die Weißrussen taten das nie. Daher entwarfen sie auch nie eine Weltordnung, die Gültigkeit für die ganze Menschheit beanspruchte, geschweige denn, dass sie wie die Russen versucht hätten, eine solche Ordnung zu etablieren. Im Traum würde ihnen das nicht einfallen. Was sie aber schon immer gut konnten, das ist, ihr Land für die Verwirklichung von Heilserwartungen zur Verfügung zu stellen.
Heidentum, Christentum, Renaissance, Reformation und Gegenreformation, Sozialismus, Internationalismus, Kommunismus und schließlich Globalisierung. Alle diese Religionen, Ideologien und Bewegungen haben ihre Spuren in Weißrussland hinterlassen.
Die Idee einer homogenen Nation, die sich von anderen Nationen abgrenzt und ihren eigenen Staat hat, wird sich nach Ansicht Akudowitschs wohl niemals gegen die fatalistische Weltsicht der Weißrussen durchsetzen.
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Weißrussland ist immer noch ein Land ohne Zukunft, zumindest mit ungewisser Zukunft. In Weißrussland und mit Weißrussland kann alles geschehen. Weißrussland kann zu einem gewöhnlichen europäischen Staat werden oder zur Provinz eines wiederauferstandenen Russischen Reichs. Es kann ein lokales Fragment einer globalisierten Welt werden oder treibende Kraft einer aggressiven Allianz "slawischer" Staaten.
Valentin Akudowitsch beschränkt sich in seinem fast 200 Seiten umfassenden Essay nicht nur auf die Geschichte Weißrusslands. Der Philosoph widmet sich auch grundlegenden Fragen der Nation, des Nationalismus und des Verhältnisses von Religion und Staat.
Auch wenn Belarus und die historische Entwicklung dieses Landes vielen Westeuropäern unbekannt ist, so sind die Phänomene und Ideologien, die diese Historie prägen, auch bestimmend für die gesamteuropäische Geschichte. So etwa das Verhältnis von Nationalismus und Kommunismus.
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Beide sind Folgen eines einzigen Ereignisses: der Französischen Revolution mit ihrer Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Sie entwickelten sich in der gleichen Epoche und im gleichen Raum. Sogar die Feinde waren die gleichen: die Monarchie, der dynastische Staat, der Kolonialismus. Doch ihrem Wesen nach sind es zwei absolut gegensätzliche Ideologien. Eine Grundidee des Kommunismus ist der Internationalismus: Arbeiter haben kein Vaterland. Letztlich spricht die kommunistische Idee dem nationalen Prinzip die Existenzberechtigung ab. Für den Kommunismus war der Kapitalismus per definitionem ein Feind, während der Nationalismus als Produkt der kapitalistischen Gesellschaften eine seiner reinsten Formen war.
Heute versteht sich Weißrussland als eigenständige Nation, zumindest wenn es nach den Plänen des autoritären Machthabers Lukaschenko geht. Dass der "letzte Diktator Europas" auf Dauer die Geschicke Belarus lenken wird, glaubt der Philosoph Akudowitsch nicht.
Das repressive Regime hat das Land in einer Krise gestürzt, in der der Autor die Chance für einen Neuanfang sieht.
Er sieht eine Nation, die sich als Zivilgesellschaft versteht, die alle Staatsbürger einschließt. Ein Staat freier Bürger mit unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Kultur. Im wahrsten Sinn: ein europäisches Land.
Service
Valentin Akudowitsch, "Der Abwesenheitscode. Versuch Weißrussland zu verstehen", aus dem Russischen von Volker Weichsel, Suhrkamp Verlag