Das Verschwiegene

In Linn Ullmans Roman "Das Verschwiegene" geht es um einen Schriftsteller, der endlich wieder zum Schreiben kommen möchte.

"Etwas stimmte nicht", begreift Siri, eine Frau um die vierzig, verheiratet, zwei Kinder. "Sie konnte nicht sagen, was es war. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas war schiefgelaufen". Doch was genau ist zwischen ihr und Jon, ihrem Mann, schiefgelaufen, wodurch sind sie einander fremd geworden und warum gibt es offenbar keinen Weg, offen und ehrlich miteinander umzugehen?

"Das Verschwiegene", der neue Roman von Linn Ullmann, handelt von Argwohn, Eifersucht, Untreue und Wut, vom Verlust des Vertrauens und der Unfähigkeit, sich auszusprechen. Er schildert die Erosion einer Ehe, die Traumata einer Familie.

Ein großes Fest

Linn Ullmanns Roman beginnt mit einer Geburtstagsfeier. "Heute war der fünfzehnte Juli 2008, und Jenny wurde fünfundsiebzig." Jenny ist die Mutter von Siri, sie lebt in einer alten Villa in einer kleinen, norwegischen Küstenstadt südlich von Oslo. Aus Anlass des runden Geburtstags hat Siri ein großes Fest organisiert, gegen den Willen ihrer Mutter.

Nicht zuletzt um für die Vorbereitungen der Feier gewappnet zu sein, wurde Mille engagiert, eine 19jährige, die einen Ferienjob suchte. Mille ist eine attraktive junge Frau, ein "mondschönes Mädchen", wie sie auch genannt wird, das allen den Kopf verdreht, der es gefällt, von Männern angestarrt zu werden.

Mille versteht sich gut mit Siris Tochter Alma und flirtet mit Siris Mann Jon, der wiederum euphorisch von ihr schwärmt und ihr eine Bob-Dylan-CD schenkt. "Hör dir Sweetheart like you an", simst er Mille. Siri dagegen reagiert auffällig gereizt gegenüber diesem Mädchen, das sie an sich selbst erinnert.

Ein Misserfolg

Mille setzt alles erst in Bewegung, sagt Linn Ullmann. Sie fungiert als eine Art Spiegel, sie reflektiert die Sehnsüchte und Schwächen der Figuren, die Erwartungen und Verletzbarkeiten.

Die Geburtstagsfeier wird ein Reinfall. Jenny betrinkt sich und haut mit Alma ab, Jon stiehlt sich ebenfalls davon und hofft auf ein Rendezvous mit Mille – und Mille selbst verschwindet. Niemand findet eine Spur von ihr. Die Nachrichten bringen ihr Bild, doch Mille bleibt vermisst, "die Hoffnung, sie noch lebend zu finden, schwand mit der Zeit". Mille aber bleibt präsent. "Das ganze Haus erinnerte an Mille", schreibt Ullmann. "Ihr Verschwinden war überall."

Erinnerungen an Vergangenes

Linn Ullmann erzählt diese Familiengeschichte nicht chronologisch und linear, sondern, wie sie sagt, "mosaikartig", sie verbindet Gegenwärtiges mit Vergangenem und Siris mit Jons Perspektive. So entstehen schmerzhaft eindringliche Szenen vom Verfall eines scheinbar soliden Glücks zwischen einer patenten Restaurantbesitzerin und einem einst erfolgreichen Schriftsteller.

Nicht nur Bankschulden sind es, die auf diesem Familienleben lasten. Jon leidet unter writer's block, seit Jahren kriegt er nichts mehr zu Papier und verbraucht Verlagsvorschüsse. Siri wiederum ist zunehmend genervt, dass Jon sein Versagen nicht eingesteht und sich nicht anderweitig nützlich macht. Sie fühlt sich überfordert – und hintergangen, denn ihr Mann leistet sich Seitensprünge, leugnet sie aber und versucht, alle Spuren zu verwischen.

Erinnerungen an Vergangenes werden wach, an bessere Zeiten, als Jon und Siri, unbekümmert und verliebt, einander stundenlang Geschichten erzählten, aber auch an traumatische Momente. Siri fühlt sich mitschuldig am Tod ihres kleinen Bruders, der vor vielen Jahren verunglückte und die Trunksucht ihrer Mutter auslöste.

Nicht aufgeben wollen

Fragen wie die nach den Konsequenzen unseres Handelns, der verlorenen Unschuld, der Versöhnung und Sühne hätten sie in ihren letzten Büchern vor allem interessiert, sagt Ullmann, auch in "Das Verschwiegene" - dieser Geschichte eines Paares, das lange schon nicht mehr glücklich ist, das sich aufreibt, aber nicht aufgeben will, das "schmerzhaft ineinander verwoben" lebt.

"Szenen einer Ehe" war einer der erfolgreichsten skandinavischen Filme, gedreht vor vierzig Jahren von Linn Ullmanns Vater Ingmar Bergman mit Linn Ullmanns Mutter Liv in der Hauptrolle. Die Geschichte eines gutsituierten Paares in mittleren Jahren und ihrer Ehekrise, ihrer Trennungen und Wiederbegegnungen.

Von einer Familien- zu einer Kriminalgeschichte

Mit dem mysteriösen Verschwinden Milles macht Ullmann die Familien- zur Kriminalgeschichte, ohne freilich in erster Linie an Spannung interessiert zu sein. Schon im ersten Kapitel des Romans finden Jugendliche im Wald den Leichnam von Mille, die Opfer einer Vergewaltigung geworden war.

Mille steht für Begehren und Verbergen, für das "Verschwiegene" in dieser Geschichte, in der alle etwas wissen und keiner alles sagt.

Einer Geschichte, die nicht zuletzt auch das Geschichtenerzählen selbst thematisiert. Nicht nur, weil sie davon handelt, wie dem Schriftsteller das Schreiben können abhanden kommt. Jon sammelt Notizen zum Fall des Holocaust-Überlebenden Herman R., der "eine Geschichte erzählen wollte und dem es dabei gelungen war, die ganze Welt gegen sich aufzubringen" - weil nicht alles an dieser Geschichte den Fakten entsprach.

Präzise und unsentimental lotet Linn Ullmann in "Das Verschwiegene" das Innenleben ihrer Figuren aus, die Spannungen in einer Familie. Auch wenn manche Straffung dem Roman nicht geschadet hätte, die Charakterzüge bisweilen mehr als deutlich vorgeführt werden und das Krimipotential der Geschichte nicht wirklich ausgeschöpft wird, so gelingen der Autorin doch beißend scharfe Szenen einer Ehe, schillernde, psychologisch stimmige und auch berührende Porträts von Menschen zwischen Desillusionierung, Lebenslüge und Entrüstung. Irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas war im Begriff zu zerbrechen, weiß Siri. Und fügt am Ende hinzu: Wir müssen miteinander reden.

Service

Linn Ullmann, "Das Verschwiegene" aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Luchterhand Verlag