Bibelkommentar zu Johannes 4, 19 - 26

Die Geschichte spielt an einem Brunnen. Jesus ist zu der Frau gekommen und hat sie um Wasser gebeten. In der Wüste, in der Hitze. Da ist Wasser wichtig. Lebenswichtig. So weit, so gut. Aber das klingt einfacher, als es ist. Denn die Frau ist Samariterin und Jesus ist Jude.

Seit Jahrhunderten liegen die beiden Völker miteinander im Streit, ist das Land geteilt. Man spricht nicht miteinander, mehr noch, man bekämpft einander sogar. Vielleicht sind es die Umstände, die Jesus und die Frau am Brunnen miteinander ins Gespräch kommen lassen: In der Wüste ist Wasser ein Lebenselixier, das die Menschen verbindet. Hier jemandem Wasser vorzuenthalten, kann lebensbedrohlich werden. Aber die Geschichte zeigt, dass es hier um ganz anderes Wasser geht, das nicht minder lebensnotwendig ist. Es geht um das Lebenselixier, das Gott für die Menschen bedeutet. Zunächst einmal aber hebt Jesus die Grenzen zwischen beiden Völkern, den Juden und den Samaritanern auf. Auch der Streit, wer nun Gott richtig anbetet und wer dies in der korrekten Tradition tut, ist unwichtig. Es geht nicht mehr um Richtig oder Falsch beim Gottesdienst, es geht darum, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten.

Die Geschichte steht ziemlich am Anfang des Johannesevangeliums, im vierten Kapitel. Der Evangelist zeigt mit ihr, worauf es ihm ankommt bei Jesu Auftrag: Grenzen überschreiten, Grenzen aufheben und Menschen zusammenbringen. Was zählt, ist das Reich Gottes. Selbst an so extremen Orten wie in der Wüste, wie an einem Brunnen. Freilich weiß Jesus um seine Wurzeln, wenn er sagt: „Das Heil kommt von den Juden her.“ Nicht zuletzt das bedenkt der heutige Israel-Sonntag, an dem evangelische Kirchen ihre Wurzeln im Judentum bedenken. Wenn man sich die Bibel anschaut, wird einem schnell klar, dass alle Texte in der Bibel entweder direkte Geschichten der Juden sind, wie im Alten Testament, oder sie sind sehr stark beeinflusst von ihnen. Oft nimmt das Neue Testament Bezug auf die Psalmen, Propheten oder die Geschichtsbücher des Alten Testaments. Wie sehr Europa damit auch vom Judentum und von jüdischen Erfahrungen beeinflusst ist, wird dadurch eindrucksvoll deutlich.

Bei dem Projekt Europa geht es fortwährend darum, Grenzen aufzuheben und Menschen zueinander zu bringen. Man kann zu Europa stehen wie man will, die Freizügigkeit, die Reisefreiheit, bringt die Menschen zusammen. Allerdings gibt es da immer noch die Grenzen in den Köpfen, die auch 2000 Jahre nach unserer Brunnengeschichte viele Menschen voneinander trennen. Vielleicht sind es solche Brunnengeschichten, die diese Menschen brauchen, um Grenzen zu überwinden. Brunnengeschichten, die von der Sehnsucht nach Leben erzählen und die dabei auf eine tiefere Dimension hinweisen, die die Menschen bewegt. Vordringlich dabei ist aber, dass Grenzen zwischen den Menschen überwunden werden. Damit ist freilich keine Gleichmacherei gemeint. Es geht vielmehr darum, einander anzuerkennen und einander gelten zu lassen.

So liegt es nach wie vor an den Menschen, den anderen nicht das Wasser vorzuenthalten. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Es liegt auch an den Menschen, die Anderen um Wasser zu bitten. Dazu gehört Mut, erst recht, wenn dabei Grenzen überschritten werden müssen. Aber ich bin sicher, dass der Erfolg nicht ausbleiben wird. Und jedes Mal, wenn Menschen einander Wasser des Lebens gewähren, dann ist wieder eine Grenze gefallen und es setzt sich durch, was Jesus das Reich Gottes nannte.