Sören Kierkegaard neu aufgelegt

Tagebuch des Verführers

Eigentlich ist das "Tagebuch" Teil eines viel größeren Textkörpers: Kierkegaards "Entweder - Oder" erschien 1843 und sein Erstlingswerk über Ethik und Ästhetik wurde ob seines Umfangs - über 800 Seiten - "Monstrum von einem Buch" genannt.

Am Schluss des ersten Teils befindet sich dann das "Tagebuch des Verführers", es ist sozusagen das literarisch-praktische Beispiel für den philosophischen Überbau. Heute liest man "Das Tagebuch des Verführers" als eigenständigen Text, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Du bist mein, ich bin Dein

Wer Sören Kierkegaards "Tagebuch des Verführers" zu Ende gelesen hat, nun an den Anfang des Buches zurückkehrt und diese Briefzeilen nochmals liest, der mag denken: Armes Mädchen, wärest Du nur nie dem "Verführer" begegnet, diesem Monster von Mann! Allein das "Tagebuch des Verführers" ist ein vielschichtiges Gewebe - in literarischer, philosophischer, psychologischer und autobiografischer Weise.

Weibliche Unschuld als Antriebsmotor

Johannes nennt sich der "Verführer" in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Er macht aus seiner Passion kein Hehl, begründet sie, aus einem ästhetischen Trieb heraus. Das Brechen der weiblichen Unschuld ist sein Ziel, ganz jung müssen die Frauen sein, denn bei ihnen zeigt sich die erotisch-sinnliche Hingabe quasi im Urzustand.

Und sein nächstes Opfer hat er schon ins Visier genommen: Cordelia heißt sie, sie ist blutjung, bezaubernd schön, stammt aus sittsamen Kopenhagener Verhältnissen. Was nun dieser Johannes alles strategisch unternimmt, um seine Cordelia einzufangen, ist dann tatsächlich ein perfides Meisterstück der Verführung.

Er macht sich etwa zum Freund eines jungen Mannes, der Cordelia tatsächlich liebt und sie ehelichen möchte. Da der junge Mann etwas tölpelhaft und schüchtern ist, hilft ihm Johannes anscheinend auf die Sprünge. In Wahrheit führt er Cordelia einen Dummkopf von Mann vor, bis diese Johannes als den einzig Richtigen ansieht. Jedes Treffen, jede Geste, jede Berührung ist ab nun eine Inszenierung des Verführers, des Regisseurs dieser Liebes(ent)täuschung. Dabei argumentiert Johannes dialektisch perfide, gerade so als sei er ein Adept der Dialektik Hegels (die Kierkegaard rundweg ablehnte). So schreibt er an Cordelia einen argumentativ logischen Liebesbrief.

Selbstverliebt

Hier wird logisch richtig geschlossen, aber mit Worten falsch geschossen. Denn das "Ich liebe Dich" ist erlogene Einbildung zum Zwecke der Verführung. Nach Abschluss des Briefes an Cordelia notiert Johannes für sich:

Cordelia willigt alsbald in die Verlobung ein. Und Johannes gelingt das fast Unvorstellbare: Nicht er wird diese Verlobung lösen, sondern Cordelia selbst, indem sie durch die argumentativen Einflüsterungen Johannes' erkennt, dass er eben doch nicht der Richtige ist. Den Abschluss bildet der sexuelle Vollzug. Damit ist für Johannes die Verführung beendet. Der paradiesische Apfel der Eva ist wurmstichig geworden.

Unfähig zur Hingabe

Mit all dem könnte Sören Kierkegaards "Tagebuch des Verführers" sein Ende finden, wenn nicht beim Lesen Zweifel aufkämen, die am coolen Image des Mannes kratzen. Indem Johannes in extremer Weise Liebe vorspielt, spielt er sich selbst in die Liebe hinein - nämlich in die unschuldige Liebe des Mädchens Cordelia.

Sie ist die anderer Seite der Verführung, ein Spiegel, der Johannes tiefenpsychologisch Dreifaches vor Augen führt: Er ist liebesunfähig, weil er Angst vor der Hingabe hat. Und er hat Angst vor der Hingabe, weil sie ins Religiöse abzugleiten droht: Die blutjunge, unschuldige Cordelia soll in Wahrheit eine unerreichbare Madonna sein. Doch wer gottgleiche Liebe im Leben anstrebt, ist der nicht ein Ketzer an der Liebe Gottes? Johannes verfolgt diesen Gedankengang mehrfach im "Tagebuch", es kommt zu einem Hin und Her zwischen betrügerischer Verführung und Hingabe. Dies deswegen, "weil meine ganze Seele von Dir voll ist, bekommt das Leben für mich eine andere Bedeutung, es wird Mythos von Dir".

Dieser "Mythos" einer überhöhten Liebe wird letztlich für Johannes zum "Fluch" - so wie es Cordelia in ihrem Brief dargelegt hat.

Sich "Herausdichten"

Der Fluch, der auf den Verführer lastet, ist sein Anspruch: Er verführt das Mädchen Cordelia - und damit raubt er ihr die Unschuld. Ein gottgleicher Verführer wäre er, wenn er sie behielte als reines, in ihrer Unschuld erstrahlendes Mädchen - als Madonna! Kierkegaard und sein Verführer wissen das. Um diesem Fluch zu entkommen, wird im "Tagebuch" ein frommer Wunsch notiert:

Diese Überlegung führt direkt in Sören Kierkegaards vertracktes Liebesleben. Auch er freite in jungen Jahren das bildhübsche Mädchen Regine Olsen - und löste die Verlobung alsbald. Verfallen blieb er ihr ein Leben lang - das "Herausdichten" misslang also! Und sie, längst verheiratet und dann Witwe, vermarktete sich als "ewige Braut" Kierkegaards. Sie gab Interviews, besuchte sein Grab, genoss den späten Ruhm. Und dieses seltsame Liebesverhältnis ist natürlich eine "Parallelaktion" zu Kierkegaards "Tagebuch des Verführers".

Die einzige Liebe

Nachzulesen ist das alles in Joakim Garffs wunderbarer, klug und vergnüglich geschriebener Kierkegaard-Biografie.

Sören Kierkegaard lernte Regine Olsen erstmals 1837 kennen, damals war sie gerade vierzehn Jahre alt. Drei Jahre später waren beide miteinander verlobt. Den gefühlsmäßigen Überschwang findet man sowohl in den Briefen als auch im "Tagebuch" wieder. Der verliebte Kierkegaard schreibt an seine Verlobte Folgendes:

Im "Tagebuch des Verführers" klingt das ein wenig prosaischer. Und das muss es ja auch, weil Johannes ein perfides Spiel mit Cordelia betreiben möchte.

Madonnenhafte Liebe

Aber war das Verlobungs- und Entlobungsspiel, das Kierkegaard mit Regine Olsen trieb, nicht letztlich auch perfide, ja, eine "Frechheit"? Die Familien der beiden Verlobten sahen es zumindest so, wohl auch ein Gutteil der Kopenhagener besseren Gesellschaft. Doch Regine, die eine Zeit lang wie eine Löwin um die Liebe ihres Verlobten kämpfte, ja, sogar anbot, bloß in einem kleinen Schrank zu hausen, um bei ihm bleiben zu dürfen, gewann am Schluss ihre Würde zurück. Der Biograph Joakim Garff schildert die Szene so:

Kierkegaard löste die Verbindung zu Regine Olsen aus mehreren Gründen: Auch er hatte Angst vor der Hingabe und Angst davor, nicht mehr unabhängig schreiben und leben zu können. Doch eben auch das religiöse Motiv spielt mit hinein. Wie sein "Verführer" Johannes überhöhte Kierkegaard seine Liebe zu Regine ins Religiöse, Madonnenhafte. Und das war ihm eben nicht geheuer! Sein Biograf notiert dazu:

Kierkegaards an Kant angelehnter Imperativ "Du sollst lieben" umfasst Mensch wie Gott. Doch im Angesicht des Todes ist die irdische Liebe ein "Scherz". Ist sie es aber nicht und wird ins Madonnenhafte überhöht, dann ist sie Blasphemie! So sah es Sören Kierkegaard. Lieben wollte er bedingungslos - die Frauen, das Leben und Gott. Das ist ihm gründlich missglückt. Doch geblieben ist der Mensch, der existenzielle Querdenker, religiöse Dandy und Autor, dessen Schriften an Strahlkraft nichts eingebüßt haben.

Service

Sören Kierkegaard, "Tagebuch des Verführers", aus dem Dänischen übersetzt von Gisela Perlet, Manesse

Joakim Garff, "Sören Kierkegaard. Biographie", aus dem Dänischen übersetzt von Herbert Zeichner und Hermann Schmid, Carl Hanser

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