Bibelkommentar zu Jesaja 66, 18 - 21

Dieser Text wird zum Textcorpus des sogenannten Tritojesaja gerechnet – des letzten Teils des Jesajabuches, der wohl nach dem Babylonischen Exil zustande gekommen ist, also gegen Ende des 6. Jh. v. Chr.

In diesen Tagen war eine Rückkehr der Juden nach Jerusalem wieder möglich. Wir wissen, dass für einen beträchtlichen Teil derer, die in der Zeit des Exils in Babylon zur Welt gekommen sind, eine solche Rückkehr wenig attraktiv war. In Babylon gab es mittlerweile große Gemeinden, in denen das Judentum gelebt werden konnte. Auch hatte sich Gelehrsamkeit entwickelt. Wozu also nach Jerusalem gehen?

Da ruft dieser unbekannte Prophet zur Heimkehr auf, und das mit außergewöhnlichen Bildern, die Großes verhießen: Jerusalem wird wieder Mitte Israels sein – und dann wird die Herrlichkeit Gottes in der Welt ausstrahlen.

Das hat eine wichtige Voraussetzung und eine wichtige Folge: Die wichtige Voraussetzung besteht darin, dass sich alle, die zu Israel gehören, aus den Völkern sammeln und nach Jerusalem kommen werden. Damit wird klar gesagt: Der ewige Bund Gottes mit Israel blieb auch angesichts der Katastrophe des Exils bestehen, und dieser Bund wird bestätigt und gefestigt.
Die wichtige Folge besteht darin, dass den Völker, also allen, die nicht zu Israel gehören, die Herrlichkeit des Gottes Israels verkündet wird. Die davon künden, gehören ausschließlich zum Volk des ewigen Bundes, zu Israel.

Dieser Text lädt Christen und Christinnen zur Bescheidenheit ein und zu einer offenherzigen Aufmerksamkeit. Zur Bescheidenheit deshalb, weil dieser Text nicht mehr wie der frühe Text im ersten Jesajabuch davon spricht, dass sich viele Nationen von selbst auf den Weg machen zum Berg des Herrn, zum Zion. Tritojesaja spricht nur noch von den Juden, die aus den Völkern gesammelt werden. Ihn hat die Erfahrung geprägt, dass die Ankunft der Völker in Jerusalem oft gefährlich und manches Mal katastrophal war. Und das hat sich seit der Zeit des Tritojesaja nicht geändert. Der bis heute gärende Streit darüber, was wem in Jerusalem zusteht und was nicht, ist ein belastendes Zeugnis dafür. Eigentlich wäre es ja klar, aus biblischer Sicht, für Menschen, deren Glaube auf der Bibel beruht und die das Zeugnis der Propheten ernst nehmen wollen: Jerusalem gehört Israel, dem Volk des Ewigen Bundes.

Der Text lädt Christen und Christinnen aber auch zu offenherziger Aufmerksamkeit ein: Was bedeutet es denn heute, dass das Volk Israel nach mehr als zwei Jahrtausenden wieder einen selbstständigen Staat hat? Aus zahllosen Ländern sind Juden und Jüdinnen nach Israel gekommen, Vertriebene, Geflohene, Überlebende, Fromme, Säkulare, Künstler, Pragmatiker. Und dennoch erlebe ich, was mir unbegreiflich ist und bleibt, eine immer wieder hervorzuckende Ablehnung von Juden, Jüdinnen und dem heutigen Staat Israel durch Menschen christlichen Glaubens. Welche Blindheit schlägt hier die Augen? Welche Taubheit verstopft die Ohren? Welche Gleichgültigkeit und Abneigung zerstört die notwendige Aufmerksamkeit?

Tritojesajas Text ist ein Text tiefer Gewissenserforschung für christliche Menschen. Er fragt sie: Siehst du nicht die Herrlichkeit Gottes in Israel? – Wer aufmerksame Augen hat zu sehen und wache Ohren zu hören, der sehe und künde die Herrlichkeit Gottes, die er in Jerusalem geschaut und gehört hat.