"Im Journal zu Gast"
Wagenhofer: "Man verzweckt die Kindheit"
An Schulsystemen, die Kinder in ihren vielseitigen Begabungen nicht fördern, sondern sie zu Leistungsmaschinen machen, übt der Filmemacher Erwin Wagenhofer in seinem neuen Film "Alphabet", der im Oktober in die Kinos kommt, heftige Kritik. Er fordert eine umfassende Diskussion der Ziele und Praxis von Bildung. Denn die immer wieder auftauchende Debatte berücksichtige kaum, was Kinder wirklich brauchen: die Freiheit zu spielen und ihre eigenen Begabungen zu entwickeln.
8. April 2017, 21:58
(c) Lukas Beck
Mittagsjournal, 24.8.2013
Filmemacher Erwin Wagenhofer ist "Im Journal zu Gast" bei
"Beste Köpfe führen Welt an den Rand des Abgrunds"
Erwin Wagenhofer sieht die Gesellschaft an einer Weiche stehen: "Die Frage ist jetzt, welchen Weg wir nehmen. Ist der neue Weg der, den die Politik und große Teile der Wirtschaft vorgeben, mehr vom Alten. Oder ist der neue Weg eben ein neuer, wo wir noch gar nicht so genau wissen, was er sein wird, den wir uns erarbeiten müssen, den wir abseits der abgetretenen Pfade und Autobahnen gehen müssen."
Diese Zeit des Übergangs bringe Unsicherheit und daher würden auch die großen Krisen rühren, so der Filmemacher. Verursacht würden diese, etwa die Finanzkrise, aber nicht von ungebildeten Menschen, sondern von jenen mit hoher Ausbildung. "Das war mein Ausgangspunkt. Wenn ein Bildungssystem so ausschaut, dass die besten Köpfe, die es hervorbringt, die Welt eigentlich an den Rand des Abgrunds führen, dann kann etwas nicht stimmen." Daher würde es nicht um Schuld, Gut oder Böse gehen, sondern: "Wir sind alle zur Verantwortung gerufen, wenn wir Demokratie ernst nehmen."
"Es geht um Machterhalt"
Der Film handle von der Haltung, die hinter Bildung steckt. Leute, die über Bildung diskutieren, kommen Wagenhofers Ansicht nach aus Bereichen, die mit Kindern überhaupt nichts zu tun haben, also etwa Arbeitgeberverbänden: "Ältere Herren, die urplötzlich glauben, zu wissen, was die Kinder können müssen. Das stimmt ja alles gar nicht und denen geht es nicht um die Zukunft der Kinder, sondern um Machterhalt." Das sei das Drama an der ganzen Bildungsdebatte, sagt Wagenhofer.
Er erhebt den Vorwurf, dass man Kinder und Kindheit heute "verzwecke". Man lasse sie nicht Kinder sein. Dabei sollte man sich darum bemühen, den Kindern die Möglichkeit zu geben, dass sie jene Gaben, die sie schon mitbringen, entfalten können: "Das wird die Schule der Zukunft sein."
"Nur die Perspektive ändern"
Eltern müssten einen Spagat vollbringen. Sie wollen ihren Kindern die notwendigen Mittel für die Konkurrenzgesellschaft mitgeben, eigentlich müssten sie ihnen aber mehr vertrauen und sagen: "Wir spüren doch alle, dass es nicht mehr stimmt. Dann können wir die Kinder doch nicht auch noch in diese Welt schicken, die uns schon nicht glücklich macht." Wagenhofer ist der Meinung, man müsste gar nicht viel ändern – nur die Perspektive.
Eine gewisse "Rettungsfunktion" will Wagenhofer der Schule dann doch nicht absprechen, ganz im Gegenteil. Für Kinder aus zerrütteten sei die Schule der einzige Rettungsanker in jeder Hinsicht.
"Gegner wir selbst"
Der Zeitpunkt des Films kommt nicht von ungefähr, sagt Wagenhofer: "Dass wir den Film jetzt gemacht haben, hat die Idee, einen Beitrag zu liefern, damit es nicht zu einer Katastrophe kommt." Wagenhofer wollte mit dem Film auf den Punkt bringen, dass der Gegner "wir selbst" seien. Er selbst wisse auch nicht, welche Form von Schule und Bildung besser sein könnte, er wisse nur, dass es so, wie er es beobachtet, nicht passt.
"Alphabet" wirft am Ende die Frage auf: Wer tut den ersten Schritt? Und so sagt Erwin Wagenhofer auch "Im Journal zu Gast" über das Bildungssystem: "Wir leben in einem Gefängnis mit offenen Türen und Fenstern und die Frage ist, wer sind die ersten, die sich raustrauen?"