Fallgeschichten von Stephen Grosz

Die Frau, die nicht lieben wollte

Nach dem jüngsten Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts leidet jeder vierte Mann und jede dritte Frau im Laufe des Lebens unter einer ernsthaften psychischen Störung, wie zum Beispiel unter einer Depression, einer Psychose oder einer Angstneurose. Da ist es kein Wunder, dass psychologische Fallgeschichten immer populärer werden. Stephen Grosz hat einige davon gesammelt.

"Die Frau, die nicht lieben wollte" - das lässt aufhorchen, denn die meisten gehen wohl zum Analytiker, weil sie schon wollten, wenn sich nur die Chance böte. Hingegen, Frau H. ist eine umschwärmte Frau, aber sie hat das Gefühl, dass die Männer ihr irgendwann zu dicht auf den Pelz rücken.

Der Londoner Psychoanalytiker praktiziert seit über 25 Jahren. Er bildet Analytiker aus und lehrt am University College in London, unter anderem wie man Fallgeschichten schreibt. "Alles Leid lässt sich ertragen, wenn man eine Geschichte darüber erzählt", zitiert er die Schriftstellerin Tanja Blixen. Aber in der Praxis hat es Grosz mit Menschen zu tun, die ihre Geschichte noch nicht kennen.

"Häufig beginnen Menschen eine Analyse, weil sie sich selbst verloren haben, und weil sie darunter leiden", sagt Grosz. "Ich glaube, der Mensch begreift sich nur selbst, indem er sich die Geschichte seines eigenen Lebens erzählt. Das ist auch das, was ich an meinem Beruf sehr mag, dass meine Patienten kommen und mir die Geschichte ihres Lebens erzählen. Aber häufig ist die eben unvollständig, oder die Patienten kennen nur die zweitwichtigste Geschichte - die allerwichtigste liegt noch irgendwo im Verborgenen. Das kann passieren, wenn uns die Eltern oder andere wichtige Personen nicht halfen, das Wichtigste zu sehen oder es auszudrücken. Ein Teil der Analyse-Arbeit besteht darin, diese verborgenen Geschichten zutage zu bringen. Denn es ist so, wenn wir diese unsere verborgenen Geschichten nicht kennen, dann können sie in anderer Form als Träume oder als körperliche Symptome wiederkehren. Deshalb sucht ein Analytiker mit dem Patienten zusammen nach diesen verborgenen Geschichten."

Seelische Sackgassen

In Grosz' Buch "Die Frau, die nicht lieben wollte" finden sich 30 völlig unterschiedliche Geschichten über Sackgassen, in die Menschen geraten können. Die Geschichte von Lily, deren Kindheit ein Alptraum aus Vernachlässigung und Gleichgültigkeit war und die in ihren Sitzungen erst einmal nur Witze darüber erzählt. Indem sie ihre Trauer abtrennt, damit sie sie nicht mehr spüren muss, hat sie sich insgesamt ein wenig taub gemacht für andere Menschen. Lily möchte das ändern.

Da ist auch die Geschichte von Amanda, die zu Grosz kommt, weil sie den Verdacht hat, verrückt zu werden, denn jeden Abend steht sie vor ihrer Haustür, überzeugt davon, dass Terroristen drinnen auf sie warten, um sie und ihre Wohnung in die Luft zu sprengen. Ihre paranoiden Phantasien schützen sie vor einem viel schlimmeren Gefühl, dem Gefühl, dass sich niemand für sie interessiert. Amanda möchte nicht mehr so einsam sein.

"Die Leute, die zu mir kommen, leiden", so Grosz. "Sie leiden unter Ängsten, auch Existenzängsten, finanziellen Ängsten, dem Gefühl, nicht mehr mithalten zu können, obwohl sie alles geben. Und das führt zu Depressionen, Angst und Leid. Und weil die Menschen erst einmal selbst einen Ausweg aus ihrem Dilemma suchen, nehmen sie Zuflucht zu Alkohol, Pornografie, sie treiben manisch Sport oder arbeiten zu viel, sie essen zu viel, sie rauchen. Die Leute sind sich sogar dessen bewusst, dass ihnen das nicht gut tut. Aber sie können nicht damit aufhören."

Ein Schritt aus der Einsamkeit

Das Gute ist, sie leiden darunter, sagt Dr. Grosz im Interview, Leid ist ein großer Motivator. Und der Weg zum Analytiker ist ein erster Schritt zur Besserung, denn wenn ein Mensch den Wunsch hat, dass ein Anderer ihm hilft, dann ist er bereit zu vertrauen - auch das ist ein Schritt aus der Einsamkeit heraus in die Gemeinschaft.

"Ich habe die Geschichte eines Jungen in mein Buch aufgenommen, eines Jungen, den ich nicht behandeln konnte, denn er fühlte nicht genug Leid", erzählt Grosz. "Ich erwähne in diesem Zusammenhang die Krankheit Lepra. Nicht der Aussatz, den man sieht, ist das Schlimme an der Krankheit, sondern die Zerstörung der Nerven, deren Konsequenz Fühllosigkeit ist. Und es gibt eine psychologische Entsprechung dazu: Wenn wir unseren Schmerz unterdrücken, indem wir uns betäuben - womit auch immer - dann erzeugen wir eine Art seelische Lepra, allgemeine Gefühlstaubheit. Der Junge, von dem ich im Buch erzähle, kann sich nicht entwickeln, weil er zu wenig fühlt. Aber wenn wir kein Leid, keinen Schmerz empfinden können, dann fragen wir uns auch nicht, warum wir so sind, wie wir sind. Dann ist uns die Möglichkeit genommen, uns selbst zu verstehen und uns zu verändern. Alle Menschen empfinden manchmal Leid, es ist ganz normal. (...) Etwas jagt uns Angst ein, etwas anderes macht uns traurig, wir sind wütend, etwas Schlechtes getan zu haben. Und deshalb wollen wir uns verändern."

Richtung Veränderung

Stephen Grosz' Fallgeschichten handeln von Menschen in Sackgassen. Sackgassen, die vielen Lesern vertraut vorkommen dürften: Verlust von Lebendigkeit, soziale Ängste, das Gefühl, isoliert zu sein. Der 60-jährige Analytiker aus London sucht die Ursache und, wenn der Patient will, schiebt er ihn sehr sanft in Richtung Veränderung. Veränderung, das ist auch das Thema seines Buches "Die Frau, die nicht lieben wollte":

"Und die große Frage dazu lautet: Warum ist es so schwierig sich zu verändern, seine Lebensumstände zu verändern, Gewohnheiten zu verändern?", fragt Grosz. "Und weil meine Arbeit darin besteht, anderen dabei zu helfen, sich zu verändern und weil ich weiß, dass wir alle früher oder später an den Punkt kommen, habe ich dieses Buch geschrieben; ein Buch über andere Menschen, die an dem gleichen Punkt sind, ja, aber so, dass sich jeder in ihnen wiedererkennen kann."

Warum es so schwer ist sich zu verändern - die Antwort darauf steht gleich im Vorwort: Veränderung bedeutet Verlust. Auch der Verlust von etwas Schmerzhaftem ist ein Verlust. Und das Neue ist unbekannt und angsterregend. Deshalb kleben manche Leute förmlich an ihrem Unglück.

Reise mit Papa

Gegen Ende des Buches beschreibt Stephen Grosz, wie es kam, dass er Psychoanalytiker wurde. Er schildert eine Reise, die er seinem Vater zum 80. Geburtstag geschenkt hatte, eine Reise in die Karpaten, dort, wo der Vater geboren worden war, auch der Ort eines Traumas: Fast seine gesamte Familie wurde nach Auschwitz deportiert und dort vernichtet. Auf dieser Reise mit seinem Vater wurde Stephen Grosz einiges klar:

"Ich erinnerte mich dort, dass mein Vater nie persönlich wurde, wenn er mit meiner Schwester, meinem Bruder oder mit mir redete, als wir Kinder waren. Er war ein Mann der Tat und ist es immer noch. Er ist inzwischen über 90, ein aktiver Geschäftsmann. Aber was er gar nicht mochte war, über die Vergangenheit zu reden. Und das ist ja wohl genau das Gegenteil von dem, worauf ich mein Leben begründe. Ich sitze in einem Zimmer und rede mit Leuten über ihre Vergangenheit. Würde ich mich zu meinem Vater setzen und ihm Fragen nach der Vergangenheit stellen, er würde aufstehen und weggehen."

"The Examined Life - How we lose and find ourselves" von Stephen Grosz wurde in 14 Sprachen übersetzt. Das Buch war in den USA und in England ein Bestseller. All das ist überraschend, denn der Londoner Analytiker erzählt sanft, leise, macht seine Patienten nicht zu Exoten, sondern betont das allgemein Menschliche ihrer Not. Das Medikament, das Grosz in jeder seiner Sitzungen anwendet, heißt "Sprache" "Die Frau, die nicht lieben wollte" ist ein Buch über die Macht der Worte. Und die weiß Grosz auch schreibend einzusetzen. Seine Sammlung von Fallgeschichten enthält nicht den Hauch von Diagnosejargon. Grosz schreibt einfach, klar - wunderbar.

Service

Stephen Grosz, "Die Frau, die nicht lieben wollte. Und andere wahre Geschichten über das Unbewusste", aus dem Englischen von Bernhard Robben, S. Fischer Verlag