Roman von T. C. Boyle
San Miguel
T. C. Boyle gehört nicht nur was die Auflagen betrifft zu den erfolgreichsten Autoren der USA. 100.000 Exemplare seines Romans "América" wird die Stadt Wien ab morgen unters Volk bringen. Auch T. C. Boyles neuester Roman, "San Miguel", ist Ende August in der deutschen Übersetzung erschienen. Schauplatz ist eine entlegene Pazifikinsel.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 9.9.2013
Hoffnung und Pioniergeist
Nein, diese Insel ist kein Sehnsuchtsort, kein paradiesisches Eiland mit exotischer Vegetation, sondern karg und menschenfeindlich. Die Insel San Miguel vor der kalifornischen Küste ist titelgebender Schauplatz von T. C. Boyles neuestem Roman.
Voll Pioniergeist und in der Hoffnung, sich mit der Schafzucht einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten, geht die Familie Waters im Jahre 1888 an Land. Die Frau, Marantha Waters, aus deren Perspektive T. C. Boyle den ersten Teil der Geschichte erzählt, leidet an der Schwindsucht. Ihr Mann Will, ein Bürgerkriegsveteran, will ihr die neue Heimat als Luftkurort schmackhaft machen. Unter Gottes freier Natur soll die Lungenkranke wieder atmen können, doch von Anfang an hängt eine morbide Stimmung in der Luft und der Tod, so scheint es, lauert überall hinter schimmligen Textilien und Mauerwerk, das den Geruch von Fäulnis verbreitet.
Rückkehr zu altem Schauplatz
T. C. Boyle kehrt in seinem neuesten Roman zum Schauplatz seines letzten Buches „Wenn das Schlachten vorbei ist“ zurück. In diesem liefern sich Umwelt- und Tierschützer einen erbitterten Kampf auf den unter Naturschutz stehenden Santa Barbara Islands. In „San Miguel“ beleuchtet Boyle die Vorgeschichte, die sich auf der unbewohnten Inselgruppe zugetragen hat: „Im Zuge der Recherchen habe ich eine historische Geschichte entdeckt. Sie trug sich auf San Miguel zu, der westlichsten und abgelegensten Insel. Auf der Insel lebten zwei Familien. Eine Familie in den 1880er Jahren und eine andere Familie in den 1930er Jahren. Sie lebten von der Schafzucht. Die Insel war ihr Königreich, sie war weit weg vom Festland“, sagt T. C. Boyle.
Weibliche Perspektive
Ein Königreich freilich ohne Untertanen und eine territoriale Landnahme, die im Roman zur prosaischen Variation des uramerikanischen Siedlermythos gerinnt. Denn T.C. Boyle erzählt die Geschichte nicht aus der Perspektive der männlichen Pioniere und Abenteurer, sondern aus der Perspektive dreier Frauen: "Die Erzählerstimmen sind weiblich.“, erklärt T.C. Boyle.
Aussteigerparadies während Krise
Teil eins und zwei sind aus der Perspektive Maranthas und Ediths erzählt, zwei Frauenfiguren wie aus einem großen Erzählwerk des 19. Jahrhunderts - in einer modernen Interpretation, versteht sich. Sie empfinden das Leben auf der Insel als unwirtlich und sehnen sich nach den Vergnügungen und Annehmlichkeiten der Großstadt. Einzig Elise Leister, die in den 30er Jahren nach San Miguel kommt, findet, zumindest zeitweilig in der Abgeschiedenheit ihr Glück. Mitten in der Großen Depression wird San Miguel für sie zum Aussteigerparadies:
„Die Familie Lester wurde ziemlich bekannt, Magazine und der Rundfunk brachten Sendungen über diese Familie, die völlig isoliert auf San Miguel lebte. Es war eine harte Zeit und auf dieser Insel lebte eine Familie, die glücklich zu sein schien. Völlig isoliert, aber sie hatten genug zu essen und sie hatten ein gutes Leben“, sagt T. C. Boyle.
Empathie für Figuren
Mit „San Miguel“ hat T.C. Boyle einen historischen Roman geschaffen, der erneut beweist, dass Boyle zu den großen Erzählern der Gegenwart gehört. Anders als in seinem gefeierten Debüt „Wassermusik“ nähert sich der Autor dem historischen Stoff ohne ironische Distanz, dafür mit viel Empathie für seine weiblichen Hauptfiguren.
Service
T. C. Boyle, "América", aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Werner Richter, DTV