Ansichten des Digitalen
Im Schwarm
"Der Schwarm" lautete der Titel des Bestsellers von Frank Schätzing, in dem die Menschen von einer unbekannten Intelligenz am Meeresgrund bedroht werden. "Im Schwarm" heißt das vergleichsweise kurze Buch des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung-Chul Han. Auch hier ist die Freiheit des Menschen in Gefahr - allerdings durch ihn selbst.
8. April 2017, 21:58
Die Probleme, die Byung-Chul Han in seinem Buch bespricht, und die Befunde, die er liefert, gehen uns alle an. Denn es gilt: Wir sind "der Schwarm"!
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Die neue Menge heißt der digitale Schwarm. Sie weist Eigenschaften auf, die sie von der klassischen Formation der Vielen, nämlich von der Masse, radikal unterscheidet. Der digitale Schwarm ist schon deshalb keine Masse, weil ihm keine Seele, kein Geist innewohnt. Die Seele ist versammelnd und vereinigend. Der digitale Schwarm besteht aus vereinzelten Individuen.
Beim Chatten oder Posten von Nachrichten in sozialen Netzwerken mag ein "Wir"-Gefühl aufkommen, doch nach Byung-Chul Han ist eine aktive, oft politisch motivierte und vielleicht folgenreiche Versammlung vieler als "Wir" unmöglich - der "homo digitalis" ist und bleibt ein Einsiedler. Dies auch deswegen, weil das digitale Netz ein "Präsenz-Medium" darstellt. Permanent werden Informationen aufgenommen und in veränderter Form weitergegeben. Es gilt das Präsens, die Gegenwart - Vergangenheit, und Zukunft als Form gemeinsamer Utopie kennt das Netz nicht.
Keine frohe Botschaft
Byung-Chul Han ist Philosoph, in seinem Buch "Im Schwarm" zitiert er öfters Medientheoretiker wie Marshall McLuhan oder Vilém Flusser, aber auch Schriftsteller wie Peter Handke und klassische Philosophen wie Hegel oder Heidegger kommen zu Wort. Trotzdem gelingt es dem Autor in einer Sprache zu schreiben, die jeder interessierte Laie - oder sollte man sagen: jeder Internet-User?! - versteht.
Byung-Chul Hans Überlegungen kommen manifestartig, apodiktisch daher. Man kann sich seinen Urteilen kaum entziehen, obwohl sie alles andere als eine frohe Botschaft abgeben. Ein Beispiel: Auf der einen Seite ist das digitale Netz das demokratischste Medium, das man sich vorstellen kann: Jeder kann seine Meinung kundtun, jeder kann ungefiltert Informationen aufnehmen, sie speichern, in veränderter Form weitergeben, jeder ist im Netz ständig interaktiv unterwegs.
Das ist doch großartig!, wird man denken. Byung-Chul Han bringt da allerdings seine Bedenken ins Spiel: Radio und Fernsehen verdammen auf der einen Seite den Einzelnen zur Passivität, andererseits lernt man so, einer Geschichte folgen zu können; im Zuhören, Zusehen eignet man sich selektiv ein Wissen an, das man dann später im Gespräch weitergeben kann. Im digitalen Netz zählt jede Meinungsäußerung als gleichwertig. Das macht anscheinend das Wissen der Experten unnötig. Warum soll man auf die Meinung eines Journalisten oder eines Wissenschaftlers hören? Was weiß er, der Einzelne, mehr als das Netz?
Die Angst der Politiker vor dem Netz
Am schlimmsten fällt der Befund für Politiker aus. Wer von ihnen wagt heute noch wirklich unpopuläre Meinungen zu vertreten, gar eine Utopie zu haben? Was Politiker öffentlich sagen, ist durch die Meinungsforschung, die zusehends das digitale Netz für ihre Zwecke einsetzt, schon immer mehrheitsfähig - und wird sofort als Information ins Netz gestellt. Auch hier ersetzt der "Gefällt mir"-Button mehr und mehr das eigene Abwägen und Urteilen.
Populistischen Staatsakteuren kommt die Entwicklung sogar zupass: Anstatt zu erzählen, welche Ziele man verfolgt, genügt es, eine populäre Meinung ohne jegliche Argumentation zu postulieren - und das digitale Netz zählt die Klicks als Zeichen der Zustimmung einfach ab. In diesem Punkt hat Byung-Chul Han auf jeden Fall recht: Das digitale Netz setzt additiv auf Information, es reiht Info an Info, aber diese schier unendlich abzählbare Menge an Information erzählt noch lange keine Geschichte.
Zählen ist seliger denn Abwägen
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Das digitale Zeitalter totalisiert das Additive, das Zählen und das Zählbare. Sogar Zuneigungen werden in Form von Gefällt-mir gezählt. Das Narrative verliert massiv an Bedeutung. Heute wird alles zählbar gemacht, um es in die Sprache der Leistung und Effizienz umwandeln zu können. So hört heute alles, was nicht zählbar ist, auf, zu sein.
Personen mit Namen, Wünschen und mit ihrem Kaufverhalten sind zählbar, das eigenständige Subjekt muss erst von sich und der Welt erzählen können, um ein solches zu sein. Das Subjekt innerhalb eines Staates nennt man Bürger. Bislang haftete dem Bürger immer auch etwas Individuelles, schwer Greifbares, daher Unvorsehbares an. Das macht der Politik, aber auch der Konsumwirtschaft zu schaffen. Doch durch das digitale Zeitalter kommt es nach Byung-Chul Han zu einem totalen Perspektivenwechsel.
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Jeder Klick, den ich tätige, wird gespeichert. Jeder Schritt, den ich mache, wird zurückverfolgbar. Überall hinterlassen wir digitale Spuren. Die Möglichkeit einer Totalprotokollierung des Lebens ersetzt das Vertrauen vollständig durch Kontrolle.
"An die Stelle von Big Brother tritt Big Data", postuliert Byung-Chul Han.- Sein Fazit:
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Die Selbstausleuchtung ist effizienter als die Fremdausleuchtung. Die Kontrollgesellschaft vollendet sich dort, wo ihre Bewohner nicht durch äußeren Zwang, sondern aus innerem Bedürfnis heraus sich mitteilen, wo also die Angst davor, seine Privat- und Intimsphäre aufgeben zu müssen, dem Bedürfnis weicht, sie schamlos zur Schau zu stellen, das heißt, wo Freiheit und Kontrolle ununterscheidbar werden.
Vorsicht ist geboten!
Wie all dem entkommen? Darauf gibt Byung-Chul Han in seinem Buch keine Antwort. Vielleicht, weil die Flucht vor dem digitalen Netz dem Wunsch gleich käme, völlig abgeschottet auf einer einsamen Insel zu hausen. Das digitale Zeitalter ist eben unsere Zeit. Man kann - und sollte! - Byung-Chul Hans schmales Buch "Im Schwarm" aufmerksam lesen.
Nein, man muss nicht alle seine Ansichten teilen, manche sind - hoffentlich! - doch etwas apokalyptisch. Aber eine Grundstruktur lässt sich ausmachen: Vorsicht ist geboten! Man muss weder im realen Leben noch im Netz alles von sich preisgeben. Man soll natürlich die Angebote der digitalen Welt nutzen, sich aber auch immer vor Augen halten, dass theoretisch jeder Schritt, den man macht, gespeichert werden könnte. Und um nicht paranoid und schizophren zu werden, sollte man zuzeiten das Radio oder den Fernseher aufdrehen, oder zu einem Buch greifen. Da werden Geschichten von Menschen erzählt, von individuellen Schicksalen, die nicht einfach nur auf- und abzählbar sind.
Service
Byung-Chul Han, "Im Schwarm. Ansichten des Digitalen", Matthes & Seitz