Roman von Ernst Haffner

Blutsbrüder

Dass die weit verbreitete Armut ein wesentlicher Grund für den Aufstieg von Adolf Hitler war, das ist mittlerweile Allgemeinwissen. Nur ist das heute, in Zeiten wo man unter "Armut" versteht, sich kein zweites Handy leisten und nicht im Ausland seinen Urlaub verbringen zu können, nur mehr schwer nachzuvollziehen.

Wer wissen will, was Armut wirklich bedeutet, wie es sich anfühlt, ohne Perspektive zu leben, obdachlos zu sein und nur jeden zweiten Tag etwas zu essen, der sollte Ernst Haffners ausgezeichneten Roman lesen.

Kaum ein Entkommen möglich

"Blutsbrüder" erschien im Jahre 1932 und beschreibt die Jahre unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Nur - und das ist eine der vielen Überraschungen dieses Buches - kommt Politik in diesem Roman nicht vor. Die Jugendlichen, die Haffner beschreibt, haben keine Zeit, sich um die blutigen Straßenkämpfe, die sich Kommunisten und Nazis zu dieser Zeit in Berlin lieferten, zu kümmern. Sie sind vollauf damit beschäftigt, das bisschen Geld zusammenzukratzen, um für eine Nacht eine dreckige Matratze in einem überfüllten Schlafsaal bezahlen zu können.

Ernst Haffner beschreibt in seinem Roman ein delinquentes Milieu, aus dem es kaum ein Entfliehen gibt. Er zeigt, wie Jugendliche in Besserungsanstalten gebrochen und zu Straftätern werden. Für sie gibt es nur ein Ziel: Endlich mündig sein, um nicht mehr bevormundet zu werden. Wer die magische Grenze von 21 Jahren erreicht hat, erinnert sich mit Schaudern zurück an einen jahrelangen erbitterten Kampf. Mit der Polizei, mit dem Jugendamt, mit den Erziehern in den Anstalten. "Niemand gönnte ihnen die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, die Rummelplätze", schreibt Ernst Haffner. Und weiter: "Und sie wehrten sich. Brachen immer wieder aus den Anstalten aus und lebten auf der Straße. Ganz nach dem Motto 'Vor Kohldampf verrecken. Ja, aber wo wir wollen.'".

Um die 50.000 erwerbslose Jugendliche soll es um 1930 in Berlin gegeben haben, darunter, so die damaligen Schätzungen, 15.000 obdachlose, meist aus Fürsorgeanstalten entlaufene junge Männer, die sich in Cliquen zusammenschlossen. Und eine dieser Cliquen sind die "Blutsbrüder". Das gibt es den Anführer Jonny, der stets dafür sorgt, dass die Burschen irgendwo übernachten können. Da gibt es Mitläufer und Neuankömmlinge. Und da gibt es auch die kleinen Freuden des Alltags: einen Teller warme Suppe, einen Sitzplatz in der Wärmehalle, genug Geld für Zigaretten. Die Not schweißt die Ausgestoßen zusammen.

Tipps zum Überleben

Der Gruppe, in der Leben und Überleben zumindest möglich ist, stellt Haffner den aussichtslosen Kampf des Einzelnen gegenüber. Willi Kludas heißt der junge Mann, der wohl der Hauptakteur dieses Romans ist. In der Erziehungsanstalt wurde er vom Aufseher misshandelt. Er hat sich gerächt, den verhassten Erzieher verprügelt und ist aus der Anstalt entflohen. Er springt auf einen Güterzug, nur bringt ihn dieser nicht nach Berlin sondern nach Köln.

Auf der Fahrt trifft Willi Franz, einen alten Landstreicher, der ihm erklärt, wie er am schnellsten in die Hauptstadt kommt: unter dem D-Zug. Franz versorgt Willi mit Tipps, wie er diese Reise überleben kann. Die Jacke muss ausgestopft werden, sonst erfriert man. Über den Kopf muss eine Maske gezogen werden, sonst weiß am Ankunftsort aufgrund des verschmierten Gesichts jeder, wie man gereist ist. Die Hände müssen mit Hilfe von Schlaufen befestigt werden, sonst rutscht man irgendwann ab. Schläft man ein, ist man tot. Trifft einem ein Stein, ist man tot. Findet einen die Bahnpolizei, wird man eingesperrt.

Willi überlebt die Fahrt, merkt aber bald, dass damit noch nicht viel gewonnen ist. Denn sein Kontakt in Berlin ist verschwunden, Willi in der fremden Stadt also alleine. In der Wärmestube verkauft er für ein paar Groschen seine gute Winterjacke. Er stiehlt einen Kranz Wurst - und wird die Gewissensbisse lange Zeit nicht los.

Irgendwann trifft er einen alten Bekannten aus dem Jugendheim. Der ist Mitglied der "Blutsbrüder" und setzt sich dafür ein, dass auch Willi aufgenommen wird. Eine Zeitlang scheint alles gut zu gehen. Die Gemeinschaft ist eine verschworene, Willi ist nicht mehr alleine und nun ist auch so viel Geld vorhanden, dass die Jugendlichen sich jeden Abend den Bauch vollschlagen können.

Detailgenaues Zeitporträt

Natürlich dauert die Idylle nicht lange. Willi erfährt, warum die Clique plötzlich so viel Geld hat. Sie verdient es durch Taschendiebstahl. Willi ahnt voraus, was später prompt auch eintritt: die Clique rutscht ins Berufsverbrechertum ab. Willi und sein Freund Ludwig beschließen, diesen Weg nicht zu gehen und verschwinden erneut in Berlin.

Sie wollen sich legal durchschlagen. Was leichter gesagt als getan ist, wenn man keine Papiere und keine Ausbildung hat. Aber zumindest haben die beiden eine Idee. Sie kaufen alte Schuhe auf, reparieren sie und verkaufen sie weiter. Und während ihre alte Clique nach und nach verhaftet wird, gelingt es den beiden wirklich, sich ohne Verbrechen durchs Leben zu schlagen. "Willi und Ludwig, zwei aus dem Elendsheer der Großstadtvagabunden, die schon im Untergang begriffen, nicht untergegangen sind." So lautet Ernst Haffners versöhnliche Resümee.

Natürlich kann man - so wie es einige Kritiker getan haben - monieren, dass dieses Buch keine ganz große Literatur ist. Man kann sich daran stoßen, dass Haffner mitunter die Erzählstimmen durcheinander geraten und er manchmal in die Klischee-Kiste greift; aber all das ändert nichts daran, dass "Blutsbrüder" ein detailgenaues Zeitporträt ist; ein großartiger Roman, der einem auch nach der Lektüre noch lange beschäftigt.

Service

Ernst Haffner, "Blutsbrüder", Metrolit Verlag