Brasiliens rätselhafte Schriftstellerin

Clarice Lispector

Was hat man ihr nicht alles angedichtet: Sie sei eine Sphinx, so tuschelte man, halb Göttin, halb Raubtier, schwer zu fassen und schon gar nicht zu bändigen in der Vielzahl ihrer Talente. Ein Wesen, so schön wie Marlene Dietrich und so genial wie Virginia Woolf. Sofern sie überhaupt eine Frau sei und nicht doch ein Mann, wie manche vermuteten, ein Diplomat unklarer Herkunft und Religion.

Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector hat sich zeitlebens mit vielerlei Mystifikationen konfrontiert gesehen und an den Rätseln um ihre Person vielleicht auch ein wenig mitgewirkt. Ihre Bücher sind Weltliteratur, inhaltlich, stilistisch und in ihrem radikalen Anspruch auf neue Formen des Erzählens.

Komplexe, faszinierende Künstlerin

Dem Leben und Werk der Autorin auf die Schliche zu kommen, ist ein Abenteuer geblieben. Benjamin Moser hat es sich zugetraut und legt nun eine ziemlich detailreiche Biografie vor, die mehrere Schlüssel zum Verständnis einer sehr komplexen und darin faszinierenden Künstlerin bereithält.

Moser ist Clarice Lispector lange Zeit hinterher gereist und hat in den verschiedensten Teilen Europas und Südamerikas nach Spuren ihrer Existenz gefahndet: Seine Fahrt beginnt in einem Schtetl in der Ukraine, wo Lispector 1920 geboren wurde, und führt weiter nach Brasilien: Dorthin hat sich ihre Familie vor den Pogromen und Verfolgungen geflüchtet, die im Laufe des russischen Bürgerkrieges immer heftiger aufbrandeten. Clarice wächst in Recife und später in Rio de Janeiro auf, wo sich ihr Vater als Hausierer und Krämer durchschlägt.

Schon als junges Mädchen verschlingt sie die brasilianischen Klassiker. Sie liebt Dostojewski und Hesse und beginnt selbst zu schreiben, als sie fünfzehn ist. Fünf Jahre später - sie arbeitet inzwischen als Journalistin und studiert Jus - veröffentlicht sie erste Erzählungen. Ihr eigentliches Debüt, der Roman "Nahe dem wilden Herzen", macht sie unerwartet schnell bekannt.

Rio, der Ort ihrer Sehnsucht

Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits verheiratet, all ihren Zweifeln an der Ehe zum Trotz. Sie folgt ihrem Mann in den diplomatischen Dienst, nach Neapel, Bern und Washington, lernt Paris, Amsterdam und Mexiko kennen und flüchtet sich immer wieder nach Rio, den Ort ihrer Sehnsucht. In jenen unruhigen Jahren werden ihre beiden Söhne geboren. Lispector versucht, ihnen einen gute Mutter zu sein und dennoch weiterzuschreiben.

Ihren Depressionen begegnet sie mit Medikamenten. Sie gehört nirgends wirklich dazu, das empfindet sie deutlich: nicht zur Welt der Cocktailpartys, Empfänge und Dior-Kleider, die ihr so gut stehen, und auch nicht zu den Schriftstellern und Intellektuellen ihrer Heimat. Zudem hat sie Mühe, Verlage für ihre Erzählungen und Romane zu finden.

Die "Hexe der brasilianischen Literatur"

Nach der Scheidung kehrt sie 1959 mit den Kindern nach Rio zurück. Als Journalistin und Autorin ist sie bald schon eine feste Größe im brasilianischen Alltag, ob sie nun Schminktipps gibt, Prominente interviewt oder Romane publiziert. Schwierige Zeiten: Ihr Sohn ist schizophren und fordert Aufmerksamkeit und Fürsorge, sie selbst ist in psychotherapeutischer Behandlung und kämpft mit Tabletten gegen ihre Schwermut und Schlaflosigkeit an.

An einem jener Abende, da sie im Bett raucht, fangen die Daunendecke und ihr Zimmer Feuer. Lispector kann sich retten. Fortan muss sie, deren Schönheit vielgerühmt war, mit den Narben der schweren Brandverletzungen leben. Eine Demütigung durch das Schicksal.

Gegen Ende ihres Lebens wird Lispector immer unberechenbarer und exzentrischer, ein monstre sacré, eine Diva, der man alles verzeiht, die große Hexe der brasilianischen Literatur, wie man sie auch nennt. Als Clarice Lispector im Dezember 1977 stirbt, knapp 57 Jahre alt, versinkt Brasilien in Trauer.

Brasiliens Antwort auf James Joyce

In den Jahren nach ihrem Tod applaudiert man ihr lauthals: Lispector wird von den Feministinnen ins Herz und in die Arme geschlossen, von Autoren und Literaturwissenschaftlern geschätzt, von einer breiten Leserschaft geliebt. Sie sei die brasilianische Antwort auf James Joyce, hat man ihr attestiert, und die Spuren von Spinoza, der jüdischen Mystik oder des Existenzialismus in ihrem Werk geortet.

Clarice Lispector hat ihren ganz eigenen Weg gefunden, weibliche Biografien und Gefühlswelten in eine Sprache zu übertragen, die gegen gängige Interpretationsmuster rebelliert. Ihr Werk steht wie ein Findling in der brasilianischen Erzähltradition und hat nichts gemein mit dem Realismus, dem man dort anhängt.

Obsessive Sprache

Clarice Lispector ist in den vergangenen Jahren etwas in Vergessenheit geraten. Die sorgfältig recherchierte Biografie von Benjamin Moser könnte das wieder ändern. Sie erhellt die Persönlichkeit der Autorin und verweist sehr klug auf die Bücher, die nach und nach auch im deutschen Sprachraum neu aufgelegt oder übersetzt werden. So etwa Clarice Lispectors Erstling, der Roman "Nahe dem wilden Herzen". Die Geschichte von Joana wird zu einem Psychogramm einer Frau, die sich nicht an die Vorgaben der Gesellschaft hält und schließlich aus der Ehe flüchtet, um so ihrem Naturell zu folgen, hin zu einem eigenen Leben. Beschrieben wird dies in einer verästelten, zersprengten und oft auch obsessiven Sprache, die die Zerrissenheit der Figur und deren innere Rebellion spiegelt.

Auch Lispectors zweiter Roman, "Der Lüster", führt vor, wie konsequent die Autorin dieses Thema vorantreibt und dem Bewusstseinszustand ihrer Heldinnen einen sprachlich und formal neuen Ausdruck zu geben versucht. Der Band, den Luis Ruby neu übersetzt hat, ist ein flirrendes und darin fiebriges Stück Literatur. Die Hauptfigur des Buches lebt vollends in sich, Dialoge, Gesprächsfetzen und alltägliche Erlebnisse dringen wie Fremdkörper in sie ein. Sie bleibt einsam und unverstanden, auch in Gesellschaft und Familie, und beginnt mit Mühe, sich so zu akzeptieren, wie sie ist. Ein sinnlicher Text, oft auch rätselhaft und schwer zu fassen und gerade darin fesselnd.

Sie schreibe, um jemandes Leben zu retten, hat Clarice Lispector einmal bekannt, und wahrscheinlich sei es ihr eigenes. Kaum eine Figur in ihren Büchern, in der sie nicht stecke. Gleichzeitig hat die Autorin beteuert, dass die kein Geheimnis zu bewahren habe, allen Vermutungen zum Trotz. Führt sie uns einmal mehr ans Licht? Kann gut sein. Der Weg zu ihr und ihren Werken jedenfalls scheint wieder frei. Nun soll sich jeder sein eigenes Bild machen.

Service

Benjamin Moser, "Clarice Lispector - Eine Biographie", aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, Schöffling & Co.

Clarice Lispector, "Nahe dem wilden Herzen", aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray-Güde Mertin und Corinna Santa Cruz, Schöffling & Co.

Clarice Lispector, "Der Lüster", aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, Schöffling & Co.

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