Die Unterdrückung Osteuropas 1944- 1956

Der eiserne Vorhang

Es beginnt mit einem Moment unheimlicher Stille: am 16 Jänner 1945 zieht die Wehrmacht aus Warschau ab, am 12. Februar desselben Jahres aus Budapest. Am 27. April ist es auch in Berlin so weit - die Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg verloren, die Russen kommen.

Anne Applebaum beschreibt diesen Moment, der später oft als "Stunde Null" bezeichnet wurde, nicht zufällig an diesen drei Orten: Warschau - Polen gehört als alliierter Staat zu den doppelten Verlierern; erstes Opfer von Nazideutschland wurde es sogleich von Stalin unterworfen. Ungarn nahm als zeitweiliger Verbündeter Hitlers eine Mittelstellung ein.

Deutschland war zugleich Hauptaggressor des Zweiten Weltkrieges und dessen Hauptverlierer. So unterschiedlich diese Länder in ihrer Vorgeschichte sein mochten - für Applebaum steht deren Nachkriegsgeschichte stellevertretend für den ganzen so genannten "Ostblock".

Vom "eisernen Vorhang" hatte Churchill zwar schon im Mai 1445 einmal gesprochen - als die Allianz der Anti-Hitler-Koalition schon höchst brüchig geworden war, aber Anne Applebaum geht es in ihrem Buch ohnehin nicht so sehr um die West-Ost Konfrontation, die Churchill mit seiner Metapher umschrieben hatte.

Applebaum beschreibt in ihrem Buch nicht noch einmal den Kalten Krieg, der unter Historikern gerade im Schwang ist, sondern die Vorgänge hinter diesem Vorhang - eine Geschichte, die nach 1989 und 1991 erst richtig aufgearbeitet werden konnte, im Westen aber meist Spezialisten überlassen wird.

Applebaum schreibt diese Geschichte "von innen", historischer Journalismus auf höchstem Niveau - achtzehn Kapitel lang - mit allen wichtigen "großen" Eckdaten und anhand zahlreicher Berichten von Zeitzeugen, die in den letzten zwanzig Jahren noch zu finden waren.

Die konkret Ausgangslage in den drei Ländern nach 1945 zahlenmäßig: Polen verzeichnet 5,5 Millionen Tote (davon 3 Millionen polnische Juden); 3,9 Prozent der ungarischen Vorkriegsbevölkerung kam ums Leben, Deutschland verzeichnet zwischen 6 und 9 Millionen Tote. Zum Vergleich - die Sowjetunion beklagt 20 Millionen Tote, oder mehr, so genau weiß das bis heute niemand.

Auf den Moment der Stille zu Beginn des Jahres 1945 folgt in allen Ländern Osteuropas die unheilige Dreifaltigkeit der Befreiung durch die Rote Armee - Plünderung, Vergewaltigung, Verschleppung. Dazu kommt noch - unter Zustimmung von Stalins westlichen Verbündeten - die Vertreibung. Im Januar 1945 werden etwa 70.000 Rumänendeutsche in die UdSSR verfrachtet; in der unmittelbaren Nachkriegszeit erfolgt der so genannte "Bevölkerungstransfer" von mehr als 7 Millionen Deutschen. Zu ähnlichen Transfers kommt es aber auch innerhalb des "Ostblocks" - etwa zwischen der Ukraine und Polen.

Ideologisches und politisches Hauptmotiv der Nachkriegszeit ist für Anne Applebaum Stalins Expansion zu Errichtung eines Weltreiches von bisher noch nie dagewesener Größe und ideologischer Ausrichtung.

Das bedeutet nicht, dass Stalin schon mit dem 2. Weltkrieg die 1917 von Lenin begonnen Weltrevolution fortsetzen wollte, wie es revisionistische Historiker so gerne darstellen - Stalin nütze einfach die Gelegenheit; der Westen wusste keine Antwort auf die Sowjetisierung Ostmitteleuropas.

Anders als Churchill in seiner Fultoner Rede behauptete, wusste er natürlich, was im Osten vor sich ging. Faktum war die Implementierung kommunistischer Regime, deren Chefs kamen direkt aus der Moskauer Emigration: Polens Boleslaw Bierut, Walter Ulbricht in Ostdeutschland, Matyas Rakosy in Ungarn importierten das sowjetische Modell - in ökonomischer wie politischer Hinsicht, anfangs sollte dabei auch alles nach "Demokratie" aussehen. Walter Ulbricht meinte:

Dass die Schlüsselpostionen von Beginn an in den Händen der jeweiligen Kommunistischen Parteien lagen war ebenso klar, wie die Methoden, die in den Innenministerien angewandt wurden - das Vorbild war Moskaus NKWD, der spätere KGB: Der tschechische KP-Chef Gottwald umschrieb das mit den Worten: "Den besten Nutzen aus den Erfahrung der Sowjetunion ziehen."

Im Speziallager, das nach der Befreiung des Nazi-Konzentrationslagers in Buchenwald eingerichtet wurde, starben von 150.000 Inhaftierten 120.000 - an Unterernährung und Krankheiten. In Ungarn internierte der Geheimdienst zwischen 1945 und 1949 rund 40.000 Ungarn, und es handelte sich bei weitem nicht nur um Ex-Nazis, sondern um "Klassenfeinde" und so genannte "Schädlinge" aller Art.

Anne Applebaum beschreibt die Mechanismen der Macht und der Propaganda - verbal geht es um die Erschaffung eines "neuen Menschen" des Sozialismus. Die Propaganda erfasst Kino und Radio (das "Megafon des Volkes"), in der Literatur des "Sozialistischen Realismus" wird gigantomanischen Aufbauprojekten gehuldigt, so genannte "Stoß-" oder "Bestarbeiter", die im Lauf eines Jahres ihre ganze Fünfjahresnorm erfüllen, werden geehrt.

In der Zeit des "Hochstalinismus" zu Beginn der 1950er Jahre bekommt nicht nur Warschau einen "Palast der Künste und der Wissenschaft" als Geschenk ins Stadtzentrum gestellt - Anne Applebaum berichtet auch umfassend von all den anderen Abstrusitäten, die der Sozialismus zwischen Ostsee und Schwarzem Meer teilweise bis heute hinterlassen hat. Von der Industriestadt Stalinvarosz (Dunapentele) in Ungarn bis nach Eisenhüttenstadt.

Ein Problem vermochte der osteuropäische Kommunismus - der sich laut Anne Applebaum auf "widerwillige Kollaborateure" als Systemerhaltern verlassen musste - auch im Lauf der Jahrzehnte nicht zu lösen:

Als Stalin starb, kam es sogleich in Ostberlin zu einem Aufstand, es folgten Aufstände in Polen, schließlich das Jahr 1956 in Ungarn. Den Grund dafür sieht Anne Applebaum mit einem Wort der Philosophin Hanna Arendt in folgendem Umstand, simpel und komplex zugleich: