Die Geschichte meiner Wiener Familie
Wohllebengasse
Tim Bonyhady ist ein Mann vieler Interessen: Professor an der juridischen Fakultät der Australian National University. Daneben hat er über australische Kunst und Kulturgeschichte geforscht.
8. April 2017, 21:58
Erst spät ist er jenen Dingen nachgegangen, die ihm eigentlich seit seiner Kindheit vor Augen waren: den Kunstwerken, dem Schmuck, der ungewöhnlichen Einrichtung im Haus der Großmutter und Großtante in Sydney – und der Vorgeschichte dieser Dinge im fernen Wien. Sein Buch darüber beginnt mit einem lapidaren, beinahe zynischen Satz:
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Es war ein gutes Jahr für die Wiener Möbelpacker.
Das Jahr 1938 nämlich. Die beiden Schwestern Käthe und Gretl Gallia nahmen so gut wie alles mit:
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… von Kronleuchtern bis zu Fußabstreifern, von Kuchenformen bis zu Ferngläsern, Spitzen und Leinen, Schlittschuhen und Skiern, Briefen und Tagebüchern, Rechnungen und Quittungen. Ein Klavier genügte nicht, Gretl und Käthe nahmen zwei mit: ein Pianino und einen Flügel.
Das alles fand sich später in einer keineswegs geräumigen Wohnung in Sydney. Unter anderem eine komplette Einrichtung aus schwarzen Möbeln, entworfen von Josef Hoffmann. Käthes und Gretls Eltern waren der Industrielle Moriz Gallia und seine Frau Hermine, beide Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien gekommen: er aus dem mährischen Bisenz, sie aus dem schlesischen Freudenthal.
In der Kaiserstadt entdeckten sie ihre Liebe zu Kultur, wurden zu Stammgästen in Theater und Oper. Ihr besonderes Interesse galt der bildenden Kunst. Sie unterstützten die Secession, und Hermine Gallia gehörte zu jenen nicht sehr vielen Damen der Gesellschaft, die von Gustav Klimt gemalt wurden. Ein Porträt von Klimt, das war ein teures und nicht zuletzt zeitaufwändiges Unterfangen.
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Für sein erstes goldenes Bildnis der Adele Bloch-Bauer ein, zwei Jahre später fertigte er über hundert Skizzen an; bei Hermine waren es etwa vierzig.
Das Buch "Wohllebengasse" ist allerdings weit mehr als lebhaft geschriebene Kunstgeschichte. Aus den glücklicherweise sehr umfangreichen Papieren, die die Familie nach Australien mitgenommen hatte, rekonstruiert Tim Bonyhady das geistige und soziale Leben seine Urgroßeltern, in und um die gutbürgerliche Wohllebengasse nicht weit vom Karlsplatz.
Besonders aufschlussreich zum Beispiel die Diskussionen über den Umgang mit dem Antisemitismus: Für viele, die damals reüssieren wollten, hieß der Ausweg: Übertritt zum Christentum. Diesen Weg wählten auch Moriz und Hermine Gallia, nicht ohne innere Konflikte und schlechtes Gewissen gegenüber der Familie, nicht ohne Fragezeichen betreffend Identität und Loyalität. Und dennoch schützte ihre Konversion sie nicht vor Anfeindungen sogar aus dem nahen Umfeld.
Zum Beispiel von Alma Schindler, später Alma Mahler: Mit den Gallias verbunden durch ihren Vater, den Maler Emil Jakob Schindler, wie auch durch ihren Schwiegervater und ebenfalls Maler, Carl Moll. Trotzdem nannte sie die Gallias, bei denen sie zu Gast war, ein "feistes Judenehepaar". Und doch gelingt es Tim Bonyhady, seine Familie nicht ausschließlich als Kinder ihrer Zeit und Opfer der Umstände darzustellen, sondern auch Konflikte und wenig sympathische Züge nicht zu verschweigen, etwa im Umgang Hermines mit ihren Töchtern.
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Wo immer ich mich hinwandte, fand ich mehr als vorausgesehen oder gewünscht, nicht nur weil ich länger zu schreiben hatte als erwartet, sondern auch, weil mich die Arbeit oft auf ein Terrain führte, das ich lieber nicht betreten hätte. Wie meine Mutter kämpfte ich mit dem Vermächtnis, aus einer reichen jüdischen Familie zu stammen, doch anders als sie begann ich, das Judentum als Teil meiner Identität zu akzeptieren, während mich der ostentative Konsum von Hermine und Moriz schockierte und es mich genierte, der Urenkel eines solchen Magnaten zu sein.
Tim Bonyhady und sein Bruder Bruce sollten gute Australier wurden und wurden es, die Geschichten aus der Alten Welt erzählte man ihnen nicht. Inzwischen versuchte die Mutter, die Kunstsammlung ihrer Großeltern zusammenzuhalten, woran sie letztlich scheiterte; viele Schätze verkaufte sie, jedenfalls aus heutiger Sicht, weit unter Wert.
Ein Ankauf durch den Wiener Sammler Rudolf Leopold etwa wurde später gerichtlich bekämpft. Manches aus dem Besitz der Gallias befindet sich heute in Tim Bonyhadys Haus nicht weit vom Campus seiner Universität in Canberra. Er zeigt die Möbel und das eine oder andere Porträt nicht ohne Stolz. Wien war für ihn lange eine Stadt wie andere auch, bis er vor zehn Jahren begann, die Geschichte der Sammlung seiner Urgroßeltern zu rekonstruieren – und damit auch das Immaterielle zu rekonstruieren, das in der Emigration verloren gegangen war.
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Meiner Erinnerung nach handelte die einzige Geschichte, die Gretl mir je über ihre Flucht erzählte – beinahe das Einzige, was sie mir über ihre ersten 42 Jahre in Österreich berichtete – , von vier dünnen runden Plättchen, alle gleich groß, alle mit demselben dunkelblauen Stoff überzogen. Gretl erklärte, das seien Goldmünzen, die sie vor ihrer Abreise aus Wien kaschiert hatte, um sie in die Schweiz mitnehmen zu können, ohne dass die Grenzpolizei der Nazis sie ertappte. Sie überzog die Münzen mit Stoff und nähte sie dann statt der ursprünglichen Knöpfe an ihren Reisemantel. Aber auch nach der Ankunft in Sydney nahm sie sie nicht aus der Stoffhülle, und so blieben sie ein Talisman ihres Entkommens, ein Symbol ihres Erfolges, den Nazis ein Schnippchen geschlagen zu haben.