Istanbul: U-Bahn unter Marmara-Meer
Vor 150 Jahren soll ein Sultan davon geträumt haben - jetzt hat es Regierungschef Recep Tayyip Erdogan wahrgemacht: Ein etwa eineinhalb Kilometer langer Tunnel 60 Meter unter dem Meeresspiegel verbindet nun Europa mit Asien - mitten in Istanbul. Ein Projekt der Superlative, das allerdings in der Türkei nicht ungeteilte Zustimmung findet.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 29.10.2013
Übertreibung oder Weitblick?
Wenn immer Tayyip Erdogan etwas in Angriff nimmt, wird es von seinen Gegnern gleich zerpflückt, behaupten die Anhänger des Regierungschefs. Stimmt nicht, erwidern seine Gegner: Was immer Erdogan anfasst, übertreibt er und führt es selbst ins Absurde.
Beide haben recht.
Der Marmara-Kanal sei nicht nur ein Projekt Istanbuls, sondern ein Vorhaben der ganzen Türkei, ja der ganzen Welt, verkündet der Regierungschef vollmundig. Dabei wird jetzt, mit vier Jahren Verspätung, ein kleines Teilstück des Megaprojekts eröffnet, das nicht einmal noch ausführlich getestet wurde.
Andererseits muss man dem AKP-Chef zu Gute halten, dass er sich als weitblickend erwiesen hat, als er vor acht Jahren mit dem Bau einer schnellen, unterirdischen Verbindung von Kontinent zu Kontinent begann. Damals waren die beiden Brücken über den Bosporus zwar schon überlastet, aber noch nicht so wie heute.
Wichtig, aber zu teuer
"Drei Stunden brauche ich zur Zeit in die Arbeit. Jetzt hoffe ich, dass es nur mehr eine Stunde sein wird." - Einer von jenen eineinhalb Millionen Istanbulern, die täglich zwischen der asiatischen und der europäischen Seite pendeln. Denn auf der asiatischen Seite gibt es die billigeren Wohnungen, auf der europäischen besser bezahlte Jobs. "Mir würde die neue Bahnlinie sicher viel bringen", sagt eine junge Frau, die ihre Zeit zwischen Studium und Arbeit aufteilen muss. "Ich brauche manchmal eineinhalb oder zwei Stunden von der Arbeit nach Hause. Aber hoffentlich wird daraus was."
Eigentlich stammt das Drei-Milliarden-Euro-Projekt eines Tunnels unter dem Bosporus noch aus einer anderen Phase im politischen Leben des Tayyip Erdogan: als er zwar schon als Regierungschef amtierte, aber noch so handelte wie der Bürgermeister von Istanbul, der er vorher gewesen war.
Heute will er riesige Moscheen und noch riesigere Finanzzentren bauen. Damals drehte sich seine Politik noch um die täglichen Sorgen der kleinen Leute. In den letzten Jahren ist die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander gegangen. "Oft werde ich mit der Marmara-Bahn nicht fahren können. Einmal im Monat vielleicht. Wir sind Arbeiter. Zuerst brauchen wir Arbeit und Brot. Das ist das Wichtige. Es ist ein gutes Projekt, aber wenn du hungrig bist, hört sich jedes Projekt auf."
Sorge um Sicherheit
Manche sind aus anderen Gründen verunsichert. Sie glauben nicht den Beteuerungen der Regierung, dass die etwa eineinhalb Kilometer lange Röhre 60 Meter unter dem Meeresspiegel auch sicher ist: "Wenn Sie mich fragen, hat die Sache sicher etwas Gutes, aber ich würde mich nicht trauen, damit zu fahren. Aber ich bestreite nicht, dass es für den Verkehr in der Stadt insgesamt gut sein kann."
Das verbreitete Misstrauen gegen den unterirdischen Zug hat auch damit zu tun, dass die Regierung es nach einer sehr langen Bauphase auf einmal auffällig eilig hatte, die Eröffnung anzukündigen. Möglicherweise, um am heutigen 90. Jahrestag der Republik von anderen Problemen abzulenken. Die Vereinigung der Ingenieure hat sich über das Megaprojekt kritisch geäußert. Es habe noch keine ausreichenden Belastungstests gegeben. Und für den Fall dass in die Wagons Wasser eindringen sollte, gäbe es keine Pumpen um es wieder abzusaugen. Das seien die üblichen Querschüsse der Opposition, wiegeln die Sprecher der Regierung ab. Und überschlagen sich in den türkischen Medien mit Superlativen und mehr oder weniger geglückten Metaphern. "Die Eiserne Seidenstraße" sei nun eröffnet, das wichtigste Verbindungsstück auf dem Weg von London nach Peking. Das Zitat stammt von einer englischen Zeitung. Vor kurzem wurde die westliche Presse noch als Feind gesehen - wegen ihrer Kritik an der brutalen Polizeigewalt. Aber Lob und Bewunderung aus dem Ausland sind jederzeit willkommen.