Türkei gedenkt Atatürks 75. Todestags
In der Türkei wird morgen fünf Minuten nach neun Uhr in der Früh für eine Minute ein Großteil des Straßenverkehrs still stehen - zum Gedenken an den 75. Todestag des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk. Doch obwohl Atatürk von vielen Menschen in der Türkei immer noch verehrt wird, tut die islamisch-konservativen zur Zeit alles, um sein politisches Lebenswerk in den Schatten zu stellen.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 9.11.2013
Aus der Türkei berichtet ORF-Korrespondent
Erdogan will Atatürk Konkurrenz machen
Wenn in der Türkei vom größten Politiker des Jahrhunderts die Rede war, dann konnte damit bisher nur einer gemeint sein: Mustafa Kemal Atatürk. Immer noch sind in Schulen, Krankenhäusern, Amtsstuben und in vielen Geschäften seine Porträts allgegenwärtig und Atatürk-Statuen gehören zu jedem türkischen Dorf wie in Österreich das Kriegerdenkmal.
Doch 75 Jahre nach seinem Tod hat der Gründer der Republik und Held des Unabhängigkeitskrieges Konkurrenz bekommen: Auf Riesenplakaten lässt sich nun Recep Tayyip Erdogan als Jahrhundertpolitiker feiern, der alte Träume seiner Nation wahrmacht. Das ist sogar manchen seiner Anhänger zu viel. "Es fällt auf, dass Erdogan ihn immer nur Mustafa Kemal nennt, aber nie bei seinem Ehrennamen, Atatürk, also Vater der Türken. Vielleicht weil er diesen Titel jetzt für sich beanspruchen will", das vermutet Nazli Ilicak, eine konservative Journalistin, die, wie sie sagt, Erdogan gewählt hat und das mittlerweile bereut.
Kopftuch-Verbot gefallen
Wie sehr Atatürks Figur inzwischen verblasst ist, war vor einer Woche im Parlament in Ankara zu sehen. Als dort zum ersten Mal vier weibliche Abgeordnete mit Kopftuch Platz nehmen durften, mit jenem islamischen Kopftuch, das Atatürk in den 20er-Jahren als Inbegriff der Rückständigkeit verachtet hat, und das bis vor kurzem im öffentlichen Dienst verboten war.
Atatürks Modernisierung habe das Land überfordert, meint die AKP-Anhängerin Emel Topcu: "Die Leute hatten dem allem nicht zugestimmt, aber sie mussten alles mitmachen. Oder sie haben so getan, als würden sie mitmachen, haben aber nicht mitgemacht. Nur eine kleine Minderheit hat versucht zu zeigen, dass die Türkei so ist. Aber die Türkei war nicht so."
Modernisierungsverlierer neue Atatürk-Anhänger
Aber wenn Atatürks Kopftuchverbot aus heutiger Sicht auch übers Ziel hinaus geschossen sein mag, so scheint Erdogan jetzt ins Gegenextrem zu gehen. Zum Beispiel mit seiner Ankündigung, künftig die privaten Lebensverhältnisse von Studenten ausspionieren zu lassen.
Bei vielen Studenten und Professoren steht Atatürk dagegen immer noch hoch im Kurs. Immerhin war der Aufbau eines modernen Bildungswesens eine seiner Prioritäten. "Hände weg von Mustafa Kemal!", solche und ähnliche Rufe sind immer wieder in Universitäten zu hören und haben auch bei den Gezi-Protesten eine Rolle gespielt.
Wurden bisher vor allem Militärs, Richter und Unternehmer als die treuesten Anhänger Atatürks angesehen, so kommt jetzt eine weitere Gruppe dazu: Modernisierungsverlierer könnte man sie nennen. Menschen, die sich als Opfer der neureichen AKP-Elite sehen.
Nostalgie
"Was heißt denn 'öffentlich'? Es ist das, was die Republik für uns alle aufgebaut hat. Das wird unter Erdogan jetzt Stück für Stück an die Reichen verkauft und unsere Gerichte schauen dabei zu." Der Pensionist Hassan wehrt sich dagegen, dass sein hundert Jahre altes Wohnhaus dem Erdboden gleichgemacht wird, um einem Luxusbauprojekt Platz zu machen.
Im Vorzimmer empfängt eine riesige Fahne mit dem Bild Atatürks die Besucher. Im Gezi-Park war der 70-Jährige selbstverständlich auch aktiv. Denn unter Atatürk, so ist er überzeugt, seien Bäume gepflanzt und nicht gefällt worden.