Roman von Michael Stavarič

Königreich der Schatten

Aufzählen und Erzählen haben also doch mehr miteinander gemein als das gleiche Stammwort - so denkt man, wenn man den ersten Teil des neuen Romans "Königreich der Schatten" von Michael Stavarič liest. Denn da wird man mit Listen geradezu überhäuft.

"Großvaters Inventarliste" bringt es auf fünfzig Nummern und füllt fast ein Kapitel, das Programm der "Internationalen Fleischereifachmesse" in Leipzig geht über fast drei Buchseiten, und die Liste erfundener Heiliger, die im "Themenzimmer" eines Hotels zu sehen sind, überzieht mit ihren Zungenbrechern immerhin einen ganzen Absatz; die Aufzählung von Bakterienstämmen oder Werkzeugen für Fleischbeschauen nehmen sich dem gegenüber geradezu mickrig aus. Ja, und da sind dann noch jene 50 Absätze, die identisch beginnen mit "Wie mich Mutter bei der Hand nahm..."

Aus dieser aufzählenden Erzählung erfährt man allerhand aus der Wiener Kindheit von Rosi Schmieg, und gleich im ersten Satz geht sie in die Fleischerei Schlingel. Am Ende des Romans ist sie dann selbst die stolze frischgebackene Besitzerin einer Fleischerei in Leipzig.

Innenperspektive des Fleischerhandwerks

Ja, das Fleischerhandwerk ist der rote Faden, an dem sich der schwarze Humor dieses Romans aufhängt. Und zwei Lebensgeschichten, die sich aufeinander zubewegen, verleihen ihm ebenfalls Konsistenz. Es geht, wie gesagt, um Rosi Schmieg, deren Großvater, ein passionierter Fleischhauer, im Zweiten Weltkrieg durch seinen nach Amerika geflüchteten böhmischen Zunftgenossen František Loket getötet wurde. Dieser ist der Großvater von Danny Loket, Rosis Co-Erzähler; erst der Epilog zeigt die beiden in Außenperspektive.

Es ist schon beeindruckend, was sich mit der Innenperspektive des Fleischerhandwerks erzählerisch alles anfangen lässt: Natürlich rückt das Verhältnis des Menschen zum Tier ins Bild, der Untergang des Handwerks wird thematisiert, und mit der "Internationalen Fleischereifachmesse" kann man die Leipziger Buchmesse parodieren.

Die Beschreibung des Abschlachtens ist natürlich auf die menschliche Geschichte transponierbar, zum Beispiel wenn es um den Umgang der ersten Siedler Amerikas mit den Indianern geht. "Bis man etwas erkennt, bis man es sieht, das Weiß in den Augen des anderen, danach durchladen und schießen, bevor man überrannt wird..." - mit dieser Faustregel für den Umgang der Siedler mit den Ureinwohnern, an die sich noch im Zweiten Weltkrieg Rosis Großvater hielt, beginnt der Roman.

Köchelnder schwarzer Humor

Rosi hat im Übrigen eine blühende Fantasie, sie schlägt aus jeder Bemerkung und Beobachtung ihre Hacken, bei denen man gelegentlich auflachen kann, während einem an anderer Stelle das Lachen im Hals stecken bleibt. Die Frage ist nur, warum das doch ziemlich selten passiert. Das liegt nicht nur an den Auflistungen, die tendenziell unendlich sind, was bedeutet, dass ihr Abbruch beliebig ist: Sie könnten auch dort enden, wo man noch auf die Fortsetzung neugierig ist, oder sich solange fortsetzen, bis man entnervt das Handtuch wirft und sie sicher nicht mehr zu Ende liest.

Das Grundproblem dieses Romans ist sein schwarzer Humor, der auf mittleren Temperaturen vor sich hin köchelt. Er tut nur an seltenen Stellen wirklich weh, aber lässt sich auch nicht als Unterhaltung konsumieren. Dabei erzählen Rosi und Danny aus der naiven Perspektive des Kindes und Jugendlichen, und man weiß aus einem so unvergesslichen Text wie "Unserem Nachbar sein linkes Bein" von Alois Brandstetter, wie produktiv das gegen die falschen Selbstverständlichkeiten der erwachsenen-Gesellschaft in Stellung gebracht werden kann. Bei Brandstetter ist dieser Blick allerdings bis in den Titel hinein legitimiert durch eine agrammatische Sprechweise, während Rosi und Danny im Roman von Stavarič in viel zu selbstverständlicher Eloquenz über alles Mögliche parlieren - ihre Sprache ist von der Kind-Perspektive überhaupt nicht gedeckt. Steigt man auf ihre Sprache ein, ist jedoch der naive Blick irritierend - man fragt sich, wie man mit dieser Sprache so naiv daherreden kann.

Ewig-gestrige Familie

Das gilt vor allem für den politischen Bereich. Rosi stammt aus einer Nazi-Bilderbuchfamilie, möchte man sagen, und die Mutter ist noch immer eine unverbesserliche Ewig-Gestrige - mit rührseliger Erinnerung an den Klischee-Schäferhund Hermann und allen Verhaltensweisen, Reaktionen und Sprachhülsen, wie man sie schon so oft gelesen hat und die man nur mehr gelangweilt abnickt. Ähnliches gilt für Dannys Blick auf Amerika - dabei wird im Verlauf des Buches so viel Material angeschwemmt, aus dem sich mehr machen ließe - die Batman-Figur etwa oder großväterliche Gute-Nacht-Geschichten vom König Stalin.

Peinlich wird es, wenn dieser Roman auch noch an einem Vers von Paul Celan vorbeischlenkert: "Der Tod war vielleicht doch ein Meister aus Böhmen", sagt Herr Schlingel, Rosis Ersatzvater. Worauf sollte das anspielen wenn nicht auf Celans "Todesfuge", die außerdem wohl weder der Wiener Metzger noch die diesen Satz wiedergebende Rosi kennen können. Aber der Autor kennt sie und legt sie seinem Protagonisten in geschmackloser Weise in den Mund. Ach ja, es gab einmal Lektorate...

Gottseidank kein Krimi

Der Roman ist mit Illustrationen von Mari Otberg versehen. Sie gehen über eine Behübschung kaum einmal hinaus, doch sie bewirken, dass man gerade auch die quälenden Listen doch bis zum Ende liest. Ansonsten verkommt der Roman über weite Strecken zur Demonstration, wie langweilig schwarzer Humor sein kann, wenn er beliebig durch Vergangenheit und Gegenwart, durch Europa und Amerika herummäandert.

Um niemanden zu zwingen, das Buch zu Ende zu lesen um zu wissen, wie es ausgeht, sei der Schluss verraten: Danny stapft durch Zufall in Rosis neue Leipziger Fleischerei, die gerade vor der Eröffnung steht, und findet sie "gorgeous", prächtig. Gleich wird ihm warm ums Herz, weil er an Großvater denkt. Rosi demonstriert ihm begeistert die noch unbenutzte Antirutschmatte, die sie sich für ihre Schlachtungen zugelegt hat, aber siehe da, sie muss doch ausgerutscht sein, denn plötzlich liegt Danny in seinem Blut vor ihr. Dennoch geriert sich der Roman von Stavarič wenigstens nicht als Krimi. Dafür muss man ja heute schon dankbar sein.

Service

Michael Stavarič, "Königreich der Schatten", mit Illustrationen von Mari Otberg, C. H. Beck Verlag