Geschichtliche Analyse von Ian Morris
Krieg. Wozu er gut ist
Wie viele Menschen seiner Generation ist Ian Morris in den 1970er Jahren durch die Populärkultur in seiner Ablehnung des Kriegs geprägt worden. "War Pigs" von Black Sabbath zählte damals ebenso zu seinen Favoriten wie Edwin Starrs "War!". "War - what is it good for?" fragt der Chor im Refrain. "Absolutely nothing", antwortet Starr.
8. April 2017, 21:58
Diese Botschaft hat Ian Morris in den folgenden Jahrzehnten nicht weiter hinterfragt, auch nicht, als er Historiker und Archäologe geworden war. Mitte der 1980er Jahre, als er promovierte, sei es in dieser Branche nämlich nicht üblich gewesen, sich mit dem Thema "Krieg" zu beschäftigen, meint Morris. Genauer gesagt: Kriege als historische Ereignisse kann ein Historiker natürlich nicht ausblenden, er kann es aber vermeiden, Kriegen einen Sinn zuzusprechen.
"Ich denke, dass die Antikriegssongs der 1960er und 1970er Jahre mit damals neuen Vorstellungen zu tun hatten, die es auch in akademischen Debatten gab: Krieg ist die Krankheit einer Gesellschaft, die es auszurotten gilt", so Morris im Gespräch. "Die Ansicht, dass Kriege ein Bestandteil der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte sind, war sehr unpopulär. Songs wie jener von Edwin Starr klingen durch die Erkenntnisse, über die wir heute aus der Geschichtsforschung und die Archäologie verfügen, jedoch veraltet, weil wir das Thema Krieg eben nicht nur aus einer einzigen Perspektive betrachten dürfen."
Kriege positiv für Entwicklungen
Die Erkenntnisse, die Ian Morris anspricht, sind vor allem statistischer Natur. Und wie so oft widerlegt die Statistik den emotionalen Diskurs über den Menschen als den größten Feind seiner Art. Betrachtet man die Geschichte des Krieges nämlich über einen sehr langen Zeitraum - etwa 10.000 Jahre - erwächst daraus nach Morris' faktengestützter Sicht der Dinge die Einsicht, dass sich militärische Konflikte nachhaltig positiv auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen ausgewirkt haben.
"Nehmen wir das 20. Jahrhundert als Beispiel: Rund 10 Milliarden Menschen haben dieses Jahrhundert erlebt", meint Morris. "In zwei Weltkriegen, einer Reihe von Bürgerkriegen und Genoziden, sind in Summe etwa zweihundert Millionen Menschen gestorben. Das sind zwei Prozent der Weltbevölkerung im Laufe von hundert Jahren. In der Steinzeit, wo es keine großen Kriege gab, die Menschen dafür permanenter Gewalt im Kleinen ausgesetzt waren, starben 20 Prozent der Bevölkerung im Zuge von Kampfhandlungen. Das heißt: in den vergangenen zehntausend Jahren ist die Chance, nicht in einem Krieg zu sterben, konstant gewachsen. Das ist eine erstaunliche Tatsache."
Ian Morris weiß, dass er mit seiner auf Zahlen gestützten Forschung moralisch angreifbar ist. Er weiß, dass ein Krieg für ein Individuum, das ihn durchlebt, die schlimmste Erfahrung ist, die ein Mensch machen kann. Dennoch tritt er aus der moralischen Verwerfung des Krieges heraus und beschreibt, wie etwa das römische Weltreich zwar durch Kriege und gewaltsame Unterwerfung ganzer Völker erst entstehen konnte, wie sehr die Römer aber auch daran interessiert waren, Verwaltungs- und Handelsstrukturen aufzubauen, Integration zu betreiben und den Frieden im Inneren abzusichern, was in der Folge zu Wachstum und Prosperität führte - wenn man nicht gerade Sklave war.
Eroberer oder Unterdrücker
Solange Kriege vor allem Eroberungskriege waren, änderte sich an diesem Prinzip wenig: Die Eroberten hatten sich zu unterwerfen, sie konnten sich anpassen oder wurden unterdrückt. Das war auch die Politik der Kolonialmächte im 19. und 20. Jahrhundert: Befriedung durch Unterdrückung. Für das Britische Empire etwa bedeutete das den Aufstieg zur Weltmacht. Und wieder sagt die Statistik: die Befindlichkeit des Einzelnen spielt hier keine Rolle, auch nicht das soziale Gefälle, sondern einzig die Tatsache, dass das Gewaltmonopol des Staates die Gewaltbereitschaft Einzelner oder von Teilen der Gesellschaft eindämmt. Hier kommt Thomas Hobbes, der englische Staatstheoretiker aus dem 17. Jahrhundert. ins Spiel.
"Hobbes hat verstanden, dass ein anhaltender Frieden nur zu erreichen ist, wenn es Regierende gibt, die ihn einfordern", so Morris. "Menschen sind seiner Ansicht nach Tiere, die über ein Gewaltpotenzial verfügen und dieses auch ausschöpfen, um ihre Probleme zu lösen. Hobbes meint, der einzige Weg, dieses Gewaltpotenzial zu kontrollieren und zu beschränken, bestehe in einer Regierung, die über die Macht verfügt, noch gewaltsamer vorzugehen als der Einzelne. Nur so konnte die Welt in den vergangenen zehntausend Jahren immer zivilisierter werden. Allerdings hielt Hobbes dies für den einzigen Weg zu regieren, deshalb brauchen wir auch ein bisschen Rousseau, um die Balance zu halten.
Allerdings hält sich Ian Morris mit Rousseaus Ansicht, wonach der Mensch an sich gut sei und durch den Zivilisationsprozess erst deformiert werde, nicht allzu lang auf. Zu sehr ist er davon überzeugt - und hier verlässt er den Pfad der Statistik -, dass Menschen immer zur Gewalt tendieren, um Probleme aus der Welt zu schaffen, sofern man sie nicht gewaltsam daran hindert. Der Zweite Weltkrieg, so Morris, sei nur durch die Friedenspolitik der meisten europäischen Regierungen möglich gewesen.
"Adolf Hitlers Einsatz von Gewalt, um seine Ziele zu erreichen, hatte damit zu tun, dass in Europa Frieden herrschte", meint Morris. "Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wollten die meisten Regierungen keinen militärischen Konflikt mehr austragen. Kein Problem, dachte man, könne so schwerwiegend sein, dass es nicht auf politischem Weg zu lösen sei. Das machte es leicht für Hitler, denn er bekam es in Frankreich und England mit unvorbereiteten und unmotivierten Armeen zu tun, die anfangs kaum Widerstand leisteten. Es geht also eine gewisse Gefahr davon aus, wenn Regierungen sich für den Frieden entscheiden, andere hingegen nicht.
Letztlich ist auch aus den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs - zumindest aus europäischer Sicht - eine sichere und prosperierende Nachkriegsgesellschaft hervorgegangen.
Globaler Frieden nur durch USA möglich
Zugleich hat sich der Krieg verändert. Eroberungsfeldzüge, bei denen eine Nation eine andere zwecks territorialer Ausweitung angreift, finden nicht mehr statt. Stattdessen gibt es eine Vielzahl regional begrenzter Bürgerkriege und einen global agierenden, zumeist religiös motivierten Terrorismus, der mit herkömmlichen militärischen Strategien nicht zu bekämpfen ist. Ein Bürgerkrieg, meint Morris, muss nicht zwangsläufig den Zerfall staatlicher Strukturen zur Folge haben.
"Der amerikanische Bürgerkrieg ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus einem blutigen Konflikt mit über 600.000 Toten ein gemeinsamer Staat hervorgehen konnte, eine Nation, eine Zivilgesellschaft, die die Sklaverei abschaffte."
Für das ehemalige Jugoslawien kann man das nicht so einfach behaupten, auch nicht für viele postkoloniale Bürgerkriegsländer in Afrika. Aber möglicherweise sind das in einem Zeitrahmen von 10.000 Jahren vernachlässigbare Ereignisse.
Wenn Ian Morris allerdings empfiehlt, der globale Frieden sei einzig durch die militärische Übermacht der USA zu sichern, und zwar, wenn nötig, gewaltsam, muss man fragen, welche Fakten dafür sprechen. Als Weltpolizei versagen die USA seit Jahrzehnten und stellen damit unter Beweis, dass das komplexe Gefüge der Weltgemeinschaft eben nicht den Interessen und Werten einer Nation unterzuordnen ist.
Service
Ian Morris, "Krieg. Wozu er gut ist", Campus Verlag