Roman von James Salter
Alles, was ist
James Salter, bekannt für die farbkräftige Lakonik seines Stils, erzählt in "Alles, was ist" die Geschichte des Weltkriegsveteranen Philip Bowman. Mit Anfang zwanzig erlebt der junge Mann die Schrecknisse des Pazifikkriegs mit, als unerfahrener, milchbärtiger Lieutenant der U.S.-Navy.
8. April 2017, 21:58
Zitat
Die Gefechte waren endlos, mitleidlos, im tropischen Dickicht, bei drückender Hitze. Danach sah man nah am Ufer die nackten Palmen wie Pfähle in den Himmel ragen, jedes Blatt war weggeschossen. Die Gegner waren grausame Kämpfer, mit fremdartigen, pagodenförmigen Konstruktionen auf ihren Kriegsschiffen. (...) Sie ergaben sich nicht. Sie kämpften bis in den Tod. Sie exekutierten Gefangene mit rasiermesserscharfen Klingen, zweihändige Schwerter, hoch über den Kopf gehoben, und sie waren erbarmungslos im Sieg, die Waffen im Massentriumph in die Luft gestemmt.
Äußerlich unversehrt, kehrt Salters Held nach New York zurück, innerlich aber leidet er an einer Krankheit, die man "Existenzielle Unbehaustheit" nennen könnte. Philip Bowman hat bei der Schlacht um Okinawa Gräuel und Gemetzel unerhörten Ausmaßes miterlebt. Den Bestialitäten des Kriegs entronnen, führt der junge Mann nach seiner Heimkehr eine äußerlich vollständig durchschnittliche Existenz als Lektor eines New Yorker Verlags. Aber Salters Protagonist dringt nicht wirklich ins Leben ein. "Er gehörte nicht dazu", heißt es. Aus einem Lebensgefühl elegischer Vergeblichkeit resultiert der melancholisch-kühle Sound von Salters Prosa, der auch in diesem Roman glänzend zur Geltung kommt.
Das weite Feld der Erotik
Wie sein Protagonist hat auch der Autor selbst die Schrecken des Krieges miterlebt, als Bomberpilot in Korea beispielsweise. Nachdem er in den 1950ern seinen Dienst bei der Air Force quittiert habe, erklärt Salter, sei in ihm der Wunsch erwacht, etwas Essenzielles zu machen. Und so habe er zu schreiben begonnen.
Man wird nicht fehlgehen, in Philip Bowman einen Wiedergänger James Salters zu sehen. Wunderbar, wie der Autor Bowmans erste tapsige Versuche auf dem Feld der Erotik beschreibt. Der junge Mann verliebt sich in eine schöne, kühle Protestantin aus Virginia. In ihr glaubt der Kriegsheimkehrer seine, wie nennt man das, "große Liebe" gefunden zu haben.
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Sie küssten sich, flüsterten miteinander. Als sie ihren Schlüpfer auszog, atmete er kaum, der Schlüpfer war ganz weiß, wie etwas Heiliges. Die Zartheit, der blonde Flaum. Er konnte nicht glauben, was sie taten.
"Ich... ich habe nichts bei mir", flüsterte er.
Sie antwortete nicht.
Er war unerfahren, aber dann war es ganz natürlich und überwältigend. Auch ging es zu schnell, er konnte es nicht zurückhalten. Es war ihm peinlich. Ihr Gesicht war neben seinem.
"Es tut mir leid", sagte er. "Ich konnte nicht anders."
Sie ging ins Badezimmer, und Bowman legte sich zurück, ehrfürchtig vor dem, was geschehen war, wie berauscht von einer Welt, die sich ihm eröffnete und die größten Freuden bereithielt."
Ein Irrtum, zumindest im Hinblick auf Vivian, die junge Frau, die Bowman alsbald heiraten wird. Die Ehe endet in einem Desaster.
Angeknackstes amerikanisches Selbstbewusstsein
In den nächsten Jahren und Jahrzehnten lässt Bowman nichts aus, vor allem nicht auf dem Feld der Liebe und der Fleischeslust: Er geht eine Fernbeziehung mit der unabhängigen Enid in London ein, er verfällt der hinreißenden Christine und wird von ihr mit einer infamen Intrige verlassen, zur Rache schläft er mit Christines Tochter und lässt sie grausam in einem Pariser Hotelzimmer sitzen. Bowman betrügt und wird betrogen, er begehrt und wird begehrt, aber so sehr er sich erotisch auch verströmt, satt, zufrieden, glücklich machen ihn seine Eskapaden nicht.
Der Eros und seine Beschreibung - das ist eine der Domänen des Erzählers James Salter, auch in diesem Roman. Dabei sei er keineswegs sex-besessener als andere Männer, betont der Autor. Schreiben, so hat James Salter immer wieder festgestellt, Schreiben heiße vor allem: umschreiben, so lange, bis ein Text wirklich stimmig sei.
Der Gestus von Salters Roman ist der Gestus der Desillusionierung. Der 88-jährige Autor lässt seinen Helden mit einer kräftigen Portion Lebenshunger aus dem Pazifikkrieg heimkehren, aber dann, von Liebe zu Liebe, von Liaison zu Liaison werden Bowmans Erfahrungen schaler und schaler. Das imperiale amerikanische Selbstbewusstsein ist in Salters Roman bereits bedrohlich angeknackst. Der gesellschaftliche Wandel schreitet voran, das Klischeebild der gesunden amerikanischen Familie kriegt Risse. Ehen zerbrechen, Beziehungen gehen in die Brüche. James Salter zieht in diesem Roman die Summe eines erfüllten Erzählerlebens. "Alles, was ist": ein großes, radikales Alterswerk - und ein sublimes Lesevergnügen.
Service
James Salter, "Alles, was ist", aus dem Englischen von Beatrice Howeg, Berlin-Verlag