Natur als Entwicklungsraum

Wie Kinder heute wachsen

Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit, so nennt der Heidelberger Kinderarzt Herbert Renz-Polster die beiden Entwicklungssegel, die Kindern von Geburt an helfen, das Fundament des Lebens zu bauen. Um diese Segel setzen zu können, fordert der Entwicklungsforscher in seinem neuen Buch: Kinder sollten sich ihre fundamentalen Kompetenzen spielerisch in der Natur aneignen.

Hier können sie gestalten, ausprobieren und Abenteuer erleben, ohne irgendwelche bildungsrelevante Vorgaben und Spielzeuge von Eltern oder Erziehern. Innere Stärke, Mitgefühl oder Kreativität müssen erfahren werden, die kann man nicht anerziehen oder aus klugen Kinderbüchern vermitteln.

Die Natur bietet Kindern dafür eine ideale Entwicklungsumgebung, selbst wenn das Klettern auf Bäume gefährlich ist.

Sich die Welt aneignen

"Diese Begeisterungsfähigkeit. Diese Lust am Leben. Diese Freude am Entdecken und am Gestalten", so Gerald Hüther, Neurobiologe und Co-Autor von Herbert Renz-Polster. "Und diese unglaubliche Beziehungsfähigkeit – wie sind wir als kleine Kinder in der Lage gewesen, uns mit allem, was uns umgeben hat, in so eine enge Beziehung zu setzen, dass wir uns fast immer wieder darin verloren haben. (...) 'Flow' nennen das die Glücksforscher. Wenn man ganz klein ist, ist man am Tag 50, 100 Mal in diesem Zustand, und dann schicken wir unsere Kinder in die Schule und dann machen wir uns gegenseitig das Leben schwer."

Hüther, der zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands gehört, schreibt in acht farbig abgesetzten Essays gut verständlich über Achtsamkeit, Vertrauen, Mitgefühl, Hingabe oder Geduld. Seit Jahren weist der 62-jährige Familienvater in seinen Büchern und Vorträgen beinah gebetsmühlenartig darauf hin: Bereits im Hirn jedes Neugeborenen sind zwei fundamentale Grunderfahrungen einprogrammiert: Das Erlebnis, sich weiter entwickeln zu können. Hüther nennt das "die Lust, sich eigenständig die Welt anzueignen". Diese Entdeckerfreude ist für den gebürtigen Tübinger untrennbar gekoppelt an eine der wichtigsten Erfahrungen, die jeder Mensch in der vorgeburtlichen Phase macht: "Das ist die einer allertiefsten Verbundenheit", so Hüther.

Darum geht es für Hüther und Renz-Polster ein Leben lang: Diese beiden Grundprinzipien des Lebens von Kindheit an in eine Balance zu bringen - und dabei die Natur als Entwicklungsraum zu nutzen. Verbundenheit erleben und gleichzeitig seine innere Freiheit zu entdecken oder zu bewahren, frei vom Gängelband der Erwachsenen. Klingt eigentlich ganz selbstverständlich.

Gefährliche Medienkompetenz

Seit gut zehn Jahren beobachten die beiden Forscher aber eine gegenteilige Entwicklung. Von den schlechten Ergebnissen der weltweiten PISA-Studien war 2001 vor allem die Wirtschaft geschockt. Seitdem haben sich die pädagogischen Konzepte stark verändert. Schon in der kindlichen Frühförderung geht es mittlerweile vor allem um wirtschaftlich verwertbare Kompetenzen. So halten beide Forscher das gedankenlose Einüben von "Medienkompetenz im Kindergarten" für viel gefährlicher als ein unbeaufsichtigter Besuch im Klettergarten. Denn die Persönlichkeitsbildung der Kinder bleibt auf der Strecke.

"Die virtuellen Welten der Computerspiele und das Internet sind im Grunde genommen auch nur Scheinwelten, in denen man so tut, als ob (...) man etwas erlebt, aber richtig erleben kann man es wirklich nur draußen, wo das Leben auch stattfindet", meint Hüther. "Sie können auch virtuell keine Beziehung gestalten, da müssen sie dem anderen schon ins Gesicht sehen und müssen (...) den auch mal anbrüllen können und spüren, wie ihm die Spucke ins Gesicht fliegt."

Natur ist viel

Da die Menschheit von Beginn an nur in der Natur gelebt hat, ist dies evolutionshistorisch gesehen ihr eigentlicher Entwicklungsraum. Deshalb ist es für die beiden Autoren nicht verwunderlich, dass Kinder heute noch gerne draußen spielen.

Wer in den 1960er und 1970er Jahren aufgewachsen ist, fühlt sich beim Lesen in die Kindheit zurückversetzt. Frei und unbeaufsichtigt draußen zu spielen, das war damals völlig normal, selbst wenn es nur ein kleiner Hinterhofgarten war.

Für Polster-Renz ist "Natur" erstaunlicherweise nicht nur der Wald oder die grüne Wiese. Natur kann für den Wissenschaftler vom Mannheimer Institut für Public Health auch drinnen sein: Wenn Kinder selbst ein Theaterstück erfinden, sich eigene Ziele setzen, selbst Regeln aufstellen, aber auch, wenn sie vergeblich versuchen, am Bach einen Staudamm zu bauen. Natur ist überall dort, wo unmittelbar kluge Lösungen und tragfähige Kompromisse gefragt sind. Beide Forscher stellen fest, dass in Zeiten von globalen Wirtschaftskrisen bei der Kindererziehung die Platzierung im ökonomischen Wettkampf eine viel größere Rolle spielt.

Gerüst aus Ideen, Vorbildern, Geschichten

"Die Schule ist die dominierende Erfahrung geworden", sagt Hüther, "dass man schon am Ende der Grundschule eingeteilt wird in einen Menschen, der es in diesem Leben zu was bringen wird oder auch nicht. Eltern wissen das, machen schon in der Grundschule einen Mordsdruck. Man versucht dann mit Frühförderprogrammen den Kindern so viel wie möglich beizubringen. Wer da so eigensinnig ist als Kind und sich das nicht gefallen lässt, der überlebt dieses System nicht."

"Wir, das sind wir doch alle"

Das Buch "Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum" präsentiert eine Palette an spannenden Themen: Lernpsychologie, Elternängste, neueste Studien und kindlicher Medienkonsum. Es stellt Lehrpläne und Leitbilder auf den Prüfstand und stellt gelungene Wald-Initiativen und Natur-Kitas vor, verschweigt aber auch nicht die Probleme. Gelungenes Layout, Qualitätspapier und Fotografien mit Vintage-Touch runden den "neuen Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken" ab.

Im letzten Kapitel beschreibt Gerald Hüther eindrucksvoll, dass man überall dort, wo es im Leben nicht so läuft wie geplant, wo man auf Widerstände trifft, vor allem Beharrlichkeit braucht. Und Aufgaben, an denen man wachsen kann - alleine und gemeinsam mit anderen.

"Fragen sie heute mal junge Leute, (...) solche, die einfach offen unterwegs sind, (...) die sagen dann: Wir, das sind wir doch alle", so Hüther. "Die plötzlich ein ganz Neues Wir-Gefühl entwickelt haben, (...) dass wir alle gemeinsam für diesen Planeten verantwortlich sind. Das ist schon mal eine relativ fortschrittliche Entwicklung und auch eine sehr hoffnungsfrohe Entwicklung."

Service

Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther, "Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken", Beltz Verlag