36 Interviews zum Punk
No Future
"Ich bin 51 und seit 13 Jahren stellvertretende Artdirectorin einer Frauenzeitschrift. Das finde ich jetzt auch nicht so den Riesenerfolg", sagt Annette Grotkasten auf die Frage, ob sie heute beruflich erfolgreich sei.
8. April 2017, 21:58
Nachdem die Sängerin der Band "Bärchen und die Milchbubis" der Musik ade gesagt hat, studierte sie zuerst Kunst, bis sie mit 25 Jahren für die Werbeagentur Springer & Jacoby zu arbeiten anfing. Heute lebt sie ein durch und durch bürgerliches Leben: "Ich bin inzwischen ganz friedlich, trinke zum Beispiel auch fast keinen Alkohol mehr und interessiere mich eher für Kräuter. Es gibt Wichtigeres als die Frage: Wie rette ich mein Punk-ich in die Rente?"
Wie geht es den Punks heute?
"Live Fast, Die Young" lautete stets das Motto von Rock und Pop. Wenn The Who "I hope I die before I get old" sangen, dann brachten sie das Lebensgefühl mehrerer Generationen auf den Punkt. Alt-werden war in der Popmusik nicht vorgesehen. Im Punk spitzte sich diese Verneinung der Zukunft nochmals zu. So zu leben, als gäbe es keine Zukunft, gehörte zum guten Ton. Wer ein echter Punk sein wollte, der musste früh sterben.
Was geschah aber mit jenen Menschen, die die wilde Zeit überlebten? Wie geht es ihnen heute, wie verdienen sie ihren Lebensunterhalt? Diese Frage stellten sich die Herausgeber dieses Interviewbandes, Gerti Keller und Michael Fehrenschild. Zusammen mit dem Fotografen Dominik Pietsch machten sie sich auf die Suche nach gealterten Punks. Und trafen auf Menschen wie Ille, der heute in einem Jugendgefängnis arbeitet:
"Das ist manchmal, wenn ich abends nach Hause fahre, kein so schönes Gefühl. Früher 'Fuck Authority' brüllen und heute ertappe ich mich dabei, dass ich bei Stress mit Jugendlichen hin und wieder auf 'altgediente' Methoden wie Druck und Drohungen zurückgreife, die aus der bürgerlichen Mitte kommen."
Bei schönem Wetter ins Weinviertel
Unbekannte Leute wurden für das Buch ebenso interviewt wie Heroen der Punkbewegung. Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen zum Beispiel, oder Peter Hein, Sänger der legendäre Band Fehlfarben. Der lebt seit einiger Zeit in Wien bei seiner Freundin. Und scheint, wenn er nicht mit den wieder aktiven Fehlfarben auf der Bühne den zornigen alten Mann gibt, ein recht beschauliches Leben zu führen.
Auf die Frage, was er und seine Freundin am Wochenende denn so machen, antwortet er: "Oft sind wir zu Hause. Wenn schönes Wetter ist, fahren wir gerne mit dem Rad in die Weinberge. Oder wir steigen in den Zug und fahren eine halbe Stunde, zum Beispiel nach Stammersdorf in den äußersten Norden Wiens oder ins Weinviertel. Da ist es immer leer, keine Leute. Und abends zurück."
Schorsch Kamerun, der ehemalige Bürgerschreck, ist heute in der Mitte der bürgerlichen Kultur angekommen. Er bekam im Wintersemester 2010/11 eine Gastprofessur an der Akademie der bildenden Künste in München und arbeitete als Regisseur unter anderem am Hamburger Schauspielhaus, der Berliner Volksbühne oder bei den Wiener Festwochen. "Biologie der Angst" heißt eines seiner Stück, und auf die Frage, ob er manchmal selbst Angst habe, antwortet Schorsch Kamerun:
"Aber sicher, ich habe ganz viel Angst. Andauernd. Das wird aber auch klar, wenn man sich meine kleine Herkunft anguckt. Dann sieht man, dass ich logischerweise Selbstwertprobleme habe. Und das zieht Angst nach sich. Ich bin in einem ständigen Wechsel von unsicher sein, dagegen angehen und narzisstisch gestörtem Verhalten. Das geht die ganze Zeit Hand in Hand."
Einmal Punk, immer Punk
Das Buch "No Future? 36 Interviews zum Punk" ist eine ebenso kluge wie unterhaltsame Lektüre. Hier wird nichts beschönigt und die Vergangenheit nicht in rosa Farben gezeichnet. Und die Autoren widmen sich auch jenen Themen, die sonst in Bezug auf Punk und die frühen 1980er Jahre eher vernachlässigt werden.
Thomas zum Beispiel glaubte lange Zeit, der einzige schwule Punk zu sein. "Seit der Pubertät ist mir klar, dass ich auf Männer stehe. Aber mir wurde natürlich auch eingetrichtert, dass man 'so was' nicht an die große Glocke hängen sollte. Und da die Punkszene teilweise sehr machohaft ist, traute ich mich eine ganze Weile nicht, mich zu outen."
Einmal Punk, immer Punk. Das ist das Resümee dieses Interviewbandes. Egal, ob die Männer und Frauen heute in Jugendstrafanstalten oder Werbeagenturen arbeiten – egal ob sie noch immer auf der Bühne stehen oder ihre Plattensammlung verkauft haben, das, was vor dreißig Jahren geschah, hat ihr weiteres Leben geprägt. Oder wie Annette Grotkasten sagt: "Ich bin stolz darauf, das erlebt zu haben, und finde es immer noch super."
Service
Gerti Keller und Michael Fehrenschild (Hrsg.), "No Future. 36 Interviews zum Punk", Archiv der Jugendkulturen