Ungarn vor den Parlamentswahlen
In Ungarn finden am kommenden Sonntag Parlamentswahlen statt. Mit einer ganzen Lawine von Gesetzesänderungen hat die Fidesz die Demokratie in Ungarn zwar nicht abgeschafft, aber unterhöhlt. In dieser Situation wächst der zivile Ungehorsam auch und gerade unter Künstlern.
8. April 2017, 21:58
Kulturjournal, 31.03.2014
Sonntagsstimmung gestern am Szabadság Tér, dem Freiheitsplatz nahe dem Budapester Parlament: Kinder spielen an einem Springbrunnen, dessen Fontänen direkt aus dem Boden kommen. Gleich daneben bildet die Brüstung der Einfahrt zu einer Parkgarage ein grün bepflanztes Dreieck; nicht größer als ein paar Quadratmeter. Auf dem Dreieck stehen zwei weiß lackierte einfache Holzstühle. Am Randstein des Dreiecks sammeln sich Kerzen, sepiabraune Erinnerungsfotos, und Steine, wie sie auf jüdischen Friedhöfen zum Gedenken an die Toten auf die Grabsteine gelegt werden. Ein kleines Schild erklärt: "Eleven Emlékmü. Lebendes Denkmal".
Mahnmal für überfallenes Ungarn geplant
Die kleine Assemblage ist Ausdruck des Protests – gegen ein Projekt der Orbán-Regierung. An dieser Stelle soll ein Mahnmal entstehen: Für die Besetzung Ungarns durch Hitler-Deutschland am 19. März 1944. Im Entwurf des 46-jährigen Bildhauers Péter Párkányi Raab wird das Land Ungarn durch einen schutzlos nackten Erzengel Gabriel symbolisiert. Auf diesen stürzt sich von oben Nazi-Deutschland in Gestalt eines mächtigen Reichsadlers. Ungarn wird hier als reines Opfer, nicht etwa als Verbündeter des Naziregimes dargestellt.
Seit dieses Projekt am 31. Dezember des Vorjahres – kein Witz! – vom ungarischen Parlament beschlossen wurde, hat ein anderer, weit älterer Künstler keinen Frieden mehr: György Jovanovics, einer der bedeutendsten Vertreter der ungarischen Neoavantgarde seit den 1960ern. Zufällig hat der Entwerfer des geplanten Mahnmals vor mehr als 20 Jahren in Jovanovics' Klasse studiert, und damals durchaus Talent gezeigt. Nun steht Jovanovics den Medien brav Rede und Antwort – in charismatischem Flüsterton, da er seit einer Kehlkopfoperation nur so sprechen kann.
Jovanovics schämt sich für seinen Ex-Studenten; ja, er wendet sich ganz strikt gegen dessen Mahnmalprojekt. Er hat sich an die Spitze der Protestaktion setzen lassen. Die Regierung rede da einer gängigen Geschichtslüge das Wort, und kehre Ungarns Beteiligung am Holocaust unter den Tisch.
Jüdisches Gegenmahnmal
Der Verband der jüdischen Gemeinden Ungarns hat nicht zuletzt wegen des Mahnmalprojekts gedroht, die Zusammenarbeit mit der Regierung im Holocaust-Gedenkjahr 2014 aufzukündigen. Und eine Gruppe von Künstlern um György Jovanovics hat begonnen, die für die Skulpturengruppe vorgesehene Stelle wie beschrieben mit einem improvisierten Gegenmahnmal zu besetzen.
Die Erinnerungsfotos zeigen im Holocaust ermordete ungarische Juden. Auf den weißen Stühlen kann jeder Platz nehmen, sie laden zum Dialog ein. Der Schriftsteller György Konrád wird dort im öffentlichen Raum erzählen, wie er mit 13 um Haaresbreite der Deportation entkam. Und György Jovanovics plant dort einen Vortrag zu internationalen künstlerischen Standards der Denkmalkultur. Bei dem Entwurf seines ehemaligen Schülers sieht er die nämlich nicht erfüllt.
Ein erster Erfolg der Proteste ist, dass die Errichtung des Mahnmals auf die Zeit nach den Wahlen verschoben wurde. Aber auch dann dürfte es peinlich werden, wenn - wohl unter den Augen auch ausländischer Medien - Bagger anrücken und entfernen, was Angehörige von Holocaustopfern dort zusammengetragen haben.
Vernetzungsplattform von Tranzit
Nicht alle im ungarischen Kunstbetrieb trauen sich so offen zu protestieren. Kuratoren öffentlicher Museen kann dies erfahrungsgemäß den Job kosten. Andere kündigen selbst und suchen sich Jobs im Ausland, erzählt Dóra Hegyi, die Leiterin von Tranzit Ungarn. Das ist der Budapester Ableger des Institutionsnetzwerks Tranzit, das in Österreich und vier osteuropäischen Staaten operiert.
Tranzit wird primär von der Erste Stiftung finanziert, und ist damit auch in Ungarn nicht von Regierungsgeldern abhängig. Tranzit Ungarn versteht sich im Moment auch als Vernetzungsplattform für Proteste. Die richten sich häufig gegen den "big enemy" der progressiven ungarischen Kulturszene: Die "Ungarische Akademie der Künste", MMA. So nennt sich ein ursprünglich privater Verein nationalkonservativer Intellektueller, der seit mehr als zehn Jahren besteht, und unter der Fidész-Alleinregierung mit enormer Machtfülle ausgestattet wurde. Die reicht von Entscheidungsfunktionen bei der Subventionsvergabe bis zur Übernahme großer Institutionen wie der Budapester Kunsthalle, die der betont nationalistischen MMA zugeschlagen wurde.
Symbolische Begräbnisaktion
Gegen die Übernahme der Kunsthalle am Budapester Heldenplatz protestierte eine Aktivistengruppe namens "free artists". Unter anderem mit einem symbolischen Begräbnisaktion im Oktober 2013, bei der schwarze Luftballone stiegen. Dieselbe Gruppe ist kürzlich wieder in Erscheinung getreten: Als die Pester Redoute, ein traditionsreiches Konzerthaus, am 14. März wiedereröffnet wurde. Auch die Redoute wurde der Ungarischen Akademie der Künste zugeschlagen, erklärt Márton Guylás, Verwaltungsdirektor der renommierten Theatergruppe "Krétakör" und Teilnehmer der Proteste.
Umgerechnet fast 15 Millionen Euro pro Jahr bekäme die MMA mittlerweile. Das zum Teil in Form von fixen Gehältern für die Mitglieder, sagt er. "Für die Aktion am 14. März wurde symbolisches Geld in Höhe dieser Summe gedruckt. Am Gehsteig vor der Redoute regnete es Fake-Geld, gerade als die Gäste des Festakts einziehen wollten. Und die Protestierenden legten sich mit Scheinen im Mund auf den Boden und blockierten die Zugänge. Sie wurden von der Polizei weggetragen."
Zeichen setzen – und in der kulturpolitischen Eiszeit möglichst heil überwintern. Manchen gelingt das, indem sie sich ausländische Kooperationspartner suchen; so wie Krétakör, das mit dem steirischen herbst kooperiert.