Eine Ethik für Tiere
Artgerecht ist nur die Freiheit
Dass massenhafter Fleisch-, Fisch-, Eier- und Milchkonsum auch massenhaftes Tierelend bedeutet, ist mittlerweile wohl allen Verbrauchern und Verbraucherinnen klar. Bei vielen regt sich das schlechte Gewissen. In ihrem Buch denkt Hilal Sezgin auf sehr eigene Weise über das Verhältnis von Mensch und Tier nach.
8. April 2017, 21:58
Dürfen wir Tiere nutzen?
Es gibt Dinge, über die möchte man eigentlich nicht so genau nachdenken. Dürfen wir Tiere quälen? Dürfen wir Tiere töten? Dürfen wir Tiere nutzen? Hilal Sezgin stellt diese drei unangenehmen Fragen in ihrem Buch mit äußerster Klarheit und Präzision. Sehr direkt steuert sie auf die neuralgischen Punkte der Tierethik-Debatte zu. Ihr Buch gibt einen guten Überblick über den Stand der Diskussion und setzt auf der Höhe der Debatte an: Anders als noch vor 15 oder 20 Jahren nämlich diskutiert man heute nicht mehr darüber, ob Tiere überhaupt ein Bewusstsein haben.
Auch wenn sie nicht "Ich" sagen können, ist mittlerweile eindeutig klar, dass man Wirbeltiere als empfindungsfähige Wesen ansehen muss, die in vielen Fällen auch wesentlich mehr kognitive Fähigkeiten haben als bisher angenommen. Nun ist die Frage: Wie dürfen und wie sollen wir mit Ihnen umgehen? Sezgin argumentiert moralphilosophisch, das heißt, sie wägt Rechte und Pflichten gegeneinander ab und fragt vor allem, wer für wen Verantwortung übernehmen muss. Grundlegend ist dabei eine Unterscheidung:
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Nur wer sich seiner selbst bewusst ist, von den eigenen Impulsen etwas zurücktreten und über sein Handeln rational nachdenken kann, besitzt moralische Verantwortung. Darum ist es, auch wenn es unschön klingt, sinnvoll, moralische Subjekte von moralischen Objekten zu unterscheiden. (...) Weil die Menge der (moralischen) Objekte (...) aber unvergleichlich viel größer ist, kann man das moralische Universum als asymmetrisch bezeichnen. Ebenso wie der Demente ein Recht auf Eigentum hat, auch wenn er dieses Konzept vielleicht nicht mehr versteht, oder wie Kinder ein Anrecht auf einen Kindergartenplatz oder eine Krankenversicherung haben (sollten), so können auch Tiere moralische Rechte haben, obwohl sie selbst von Moral und Rechten nichts wissen.
Die Pflicht zum vernünftigen Handeln
Selbstbewusstsein verpflichtet, so könnte man Sezgins Unterscheidung auf eine kurze Formel bringen. Der Mensch darf den Löwen - außer in Notwehr - nicht töten, auch wenn der Löwe Antilopen frisst. Weil vernünftige, erwachsene Menschen moralisch handeln können, haben sie auch die Pflicht dazu.
Warum aber gilt diese Pflicht auch gegenüber Tieren? Wesentlich für Sezgins Argument ist, dass sie hier von einer Gleichberechtigung der Spezies ausgeht: Es mag sein, dass wir in manchen Fällen lieber den Menschen bevorzugen, aber grundsätzlich haben wir kein Recht, eine Spezies der anderen vorzuziehen.
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Der Schmerz eines anderen ist für ihn genauso real und erwünscht wie meiner für mich. Im Grunde liegt hier schon der Keim zu einer Idee der Gleichheit aller. Es gibt keinen Grund, warum ein empfindungsfähiges Lebewesen mehr wert sein sollte als ein anderes, und damit ist auch kein anderes weniger wert als ich.
Unbedingter Wert Leben
Mit diesem Rüstzeug - den Ideen von Gleichheit und moralischer Verantwortung - geht Sezgin sorgfältig abwägend an ihre drei Fragen heran, und um es gleich vorweg zu nehmen: Sie beantwortet alle mit Nein. Nein, wir dürfen Tiere nicht zu medizinischen Versuchszwecken quälen, denn wir fügen ihnen unrechtmäßig viel Leid zu. Nein, wir dürfen sie nicht töten, denn das Leben ist ein unbedingter Wert, auch für Tiere. Und nein, wir dürfen sie auch nicht nutzen, denn Tiere wollen ihr eigenes Leben führen je nach den speziellen Bedürfnissen ihrer Art und ihres jeweiligen Charakters.
Hilal Sezgin lässt die Leserinnen und Leser an dem Weg ihrer eigenen Meinungsbildung teilhaben, denn dass Tierversuche und Tiernutzung abzulehnen seien, stand für die Autorin am Anfang nicht fest. Aber je genauer sie die Sache durchdenkt, je länger sie auch mit Tieren zusammen lebt, desto klarer wird sie in ihrer Haltung.
Wichtig - und irgendwie schmerzlich ist es - dass dabei auch kaum ein Argument für eine "gute" oder "artgerechte" - Haltung von Tieren für die Nahrungsmittelproduktion übrig bleibt.
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Von dieser Hoffnung leben die Bio- und Tierschutzsiegel, die sich in letzter Zeit in den Supermärkten ausgebreitet haben. Doch man muss sich die dazugehörigen Bestimmungen einmal durchlesen. (...) Konventionell steht Schweinen zum Beispiel 0,75 Quadratmeter Platz zu. Bei Neuland, dem derzeit großzügigsten Siegel für Schweinemast, sind es 1,5 Quadratmeter. Das hört sich erst einmal gut an: Ist das nicht doppelt so viel wie konventionell? Ja, aber doppelt so viel wie Null bleibt eben immer noch beinahe Null.
Pragmatische Beobachterin
Für Sezgin resultiert aus all dem eine nicht nur moralisch, sondern auch politisch motivierte vegane Lebensweise, die sich gegen die Vernutzung von Leben richtet. Selbst wenn es möglich wäre, auf ethisch vertretbare Weise tierische Produkte herzustellen - so meint sie - werde das so teuer, dass sich der Aufwand nicht lohne. Veganismus sei im Vergleich dazu praktischer und billiger.
Was an Sezgins Buch beeindruckt, ist die Haltung der Autorin. Immer wieder baut sie in die theoretischen Überlegungen amüsant zu lesende Szenen aus dem Alltagsleben auf ihrem Gnadenhof ein. Sezgin ist keine sentimentale Tierliebhaberin, sondern eine pragmatisch mitfühlende und genaue Beobachterin ihrer Schafe, Hühner und Schweine. Sie sieht Tiere konsequent als Individuen mit dem Recht auf eigene Bedürfnisse und eigenen Willen, dem man - so weit es geht - Raum lassen müsse. Aus dieser Haltung entwickelt sie ein allgemeines Konzept für das Leben mit Tieren, das sich auch auf die Stadt übertragen lasse und durchaus menschlichen Bedürfnissen entspreche.
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"Die meisten Menschen wollen mit anderen Tieren zusammenleben. Sie bleiben erfreut stehen, wenn sie in einer Stadt wie Berlin einen Reiher sehen. Wenn ihre Umgebung an Tieren verarmt ist, suchen sie Orte auf oder schaffen welche, wo sie Tieren begegnen können. (...) Wäre es nicht klüger, den Tieren, die freiwillig zu uns in die Städte kommen, die Stadt mit baulichen und anderen Maßnahmen verständlicher zu machen statt andere Tiere in Zoos und Käfigen gefangen zu halten? Wir würden nicht mehr in Zoos gehen, bräuchten aber auch keinen hysterischen Anfall zu bekommen, wenn Wildschweine durch die Vorortsiedlung laufen, und wären besser vorbereitet, wenn sich ein Vogelpaar einen Teil unserer Garage zum Nistplatz erkoren hat.
Neue Sichtweise auf Tiere
Sezgins Buch liest sich wie Science Fiction aus der möglichen Zukunft. Langsam aufbauend, kommt die Autorin mit einfachen Überlegungen zu radikalen Schlüssen, die heute verrückt erscheinen, aber in einigen Jahrzehnten durchaus normal sein könnten. Vielleicht werden wir Lederjacken und Lederschuhe einmal genauso ächten wie heute die Pelzmäntel.
Man mag den Ton der Moralphilosophie mit ihrer Rede von Rechten und Pflichten unschön finden. Man mag auch bei Sezgins Ideen zum Zusammenleben mit Tieren eher ans biblische Paradies und den heiligen Franziskus denken als an wirklich praktikable Lebensweisen. Aber die Lektüre lohnt. "Artgerecht ist nur die Freiheit" enthält viel Material, ist sorgfältig und gut geschrieben und macht eine neue Sichtweise auf Tiere plausibel. Jetzt kann das Nachdenken beginnen.
Service
Hilal Sezgin, "Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen", C. H. Beck Verlag